Wohin steuert Europa und welche Herausforderungen werden uns in den kommenden Jahren beschäftigen? Drei Referent/innen aus Brüssel haben bei der 14. Auflage von “Excellence and Leadership” spannende Perspektiven beigesteuert: Ralph Sina (journalistisch), Dr. Fabian Zuleeg (strategisch) und Inga von der Stein (beteiligt) kamen dabei zu einer klaren These: Die Themen, die uns in den kommenden Jahren beschäftigen werden, liegen längst nicht nur innerhalb Europas.
Die Europawahl 2019 findet vom 23. bis 26. Mai 2019 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt. Es werden 751 Abgeordnete gewählt, 96 davon kommen aus Deutschland. Schon jetzt könnt Ihr per Briefwahl wählen. Am 2. Juni wird von dem neugewählten Europäischen Parlament der Kommissionspräsident gewählt. Er muss eine Mehrheit über 50 Prozent erhalten.
Ralph Sina: Die journalistische Perspektive
Ralph Sina hat sehr verschiedene Konfliktsituationen in den Ländern kennengelernt, in denen er gearbeitet hat. Der jetzige Leiter des WDR/NDR-Studios in Brüssel war unter anderem Korrespondent in Zentral- und Ostafrika in Nairobi. Er arbeitete als Reporter in den Tsunami-Katastrophengebieten in Asien und war sieben Jahre lang Auslandskorrespondent für die ARD in Washington.
Schon allein die Arbeitssituation in den Ländern sei völlig unterschiedlich gewesen: In Afrika habe er täglich viele Sicherheitsroutinen treffen müssen. In Washington erhielten deutsche Journalisten nur selten die Gelegenheit, exklusive Interviews zu führen und Informationen zu erfahren. In Brüssel dagegen wird der direkte Draht zu Journalisten gepflegt; Ralph Sina spricht von einem “Informations-Overkill”, bei dem Journalisten klare Grenzen ziehen müssten.
Vier Herausforderungen, von denen er in seinem Vortrag spricht, sollen hier kurz genannt werden:
Erste Herausforderung: Erstarken der rechtsgerichteten Parteien
Daraus entstünden zukünftig noch größere Schwierigkeiten, produktive Mehrheiten zu finden. Vor allem in den Social Media werde Meinungsmache vorwiegend über Emotionalisierung geführt. Ralph Sina nennt als Beispiel eine Absprache, die verschiedene Influencer gegen den UN-Migrationspakt geführt haben. Nicht nur Medien, sondern auch die europäische Politik sei daher darum bemüht, Debatten auf den inhaltlichen Kern zurückzuführen. Sina plädiert dafür, die AfD nicht zu tabuisieren, sondern eher zu fragen: “Was schlagt ihr vor? Was ist Euer Konzept?”
Zweite Herausforderung: Fragilität des Parlamentes
Trotz des Brexit dürfen die Briten Ende Mai wählen. Ihre Abgeordneten werden, so die Regel, für weitere fünf Jahre ins Parlament gewählt. Was aber passiert, wenn Großbritannien tatsächlich die Europäische Union verlässt? Was passiert, wenn – wie erwartet – eine Brexit-Partei mit klar europakritischer Politikrichtung trotzdem im Parlament mitbestimmt?
Dritte Herausforderung: Migrationsbewegung in Afrika
“In Afrika beginnen oft die Konflikte. Sie werden dort aber kaum erkannt”, sagt Ralph Sina und blickt auf die weitere Entwicklung des Kontinents, die auch Europa verändern könnte. Dort findet gegenwärtig das größte Bevölkerungswachstum der Welt statt. Neben der Ressourcenknappheit ist bei den (männlichen) politischen Machthabern der Korruptionsgedanke durch Machtcliquen und undurchsichtige Strukturen tief verankert. Dazu kommt, dass in vielen Ländern die nötige Infrastruktur fehlt.
Als Positivbeispiel nennt er das afrikanische Land Ruanda: Dort wurde die Rolle von Frauen deutlich aufgewertet und eine Heirat erst ab 21 Jahren festgelegt. Sina glaubt, dass sich die Europäische Union stärker in Afrika engagieren sollte: nicht durch Geldzahlungen, sondern durch das Schaffen von Infrastruktur, Bildung und den Zugang zu Krediten.
Vierte Herausforderung: Wirtschaftliche Expansionspolitik Chinas
Immer häufiger bewerben sich auch chinesische Unternehmen um EU-Projekte. Das Problem dahinter ist, dass in den Unternehmen auch direkte Kontaktmänner zur Kommunistischen Partei Chinas sitzen. China habe bewusst dazu beigetragen, einen Keil zwischen Europa und einzelnen Ländern zu schaffen. Etwa in Griechenland: Während der Finanzkrise dort investierten viele chinesische Firmen und banden das Land an Verträge. Wen wundert es da, wenn Griechenland kein Veto gegen den großen Investor einlegt?
In der Fragerunde wird deutlich, dass Europa vor einer tiefen Zäsur steht: Was vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar erschien, wird nun diskutiert: Kann ein autoritärer, kommunistisch geprägter Staat wie China, der derzeit wirtschaftlich wächst, nicht doch eine bessere Alternative zum westlichen Modell etwa der USA darstellen? Prinzipielle Demokratie-Tugenden, wie Gewaltenteilung, Pluralität und Freiheit würden plötzlich infragegestellt und gegen eine Chimäre aus Kommunismus und Marktwirtschaft diskutiert werden.
Dr. Fabian Zuleeg: Die strategische Perspektive
Im zweiten Teil des Workshops berichtete Dr. Fabian Zuleeg über die Zukunft Europas im Licht der gegenwärtigen Herausforderungen. Zuleeg lebt seit zwölf Jahren in Brüssel und leitet seit sechs Jahren als Chief Executive and Chief Economist das European Policy Centre, einen renommierten Think Tank in Brüssel. Er und sein Team geben dabei Politikempfehlungen für die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten ab, arbeiten aber trotz der direkten Nähe zur europäischen Politik unhängig.
Seine Prognose für die Europawahl 2019 sieht folgendermaßen aus: Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) bleibt weiterhin die stärkste politische Kraft im Parlament. Die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) wird – wie in vielen Nationalstaaten – deutliche Verluste hinnehmen. Zuleeg schätzt, dass es dieses Mal nicht einmal für eine große Koalition reichen wird.
Somit werde es fortan schwieriger fallen, kontroverse Auflagen im Parlament durchzubringen. Ungefähr 30 Prozent der Wähler, so seine Schätzung, würden bei der Europawahl für rechtskonservative, rechte, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien stimmen. Zuleeg gibt zu, das Potential dieser Protestbewegung habe man in der Vergangenheit unterschätzt.
Folgende weitere Herausforderungen nennt Dr. Fabian Zuleeg für die kommenden Jahre. Sie sollen an dieser Stelle nur ganz kurz genannt werden:
2. Wachsende Unkenntnis über die Europäische Union: Viele wüssten noch nicht einmal, wer die EU-Spitzenkandidaten sind.
3. Migrations-Debatte: Weitere Migration sei nicht zu verhindern und aufgrund der sinkenden Bevölkerungszahlen in Europa sogar notwenig. Der politische Trend gehe nun dahin, mehr in Grenzkontrollen zu investieren.
4. Innere Sicherheit/Terrorismus: Politisch radikale Kräfte von Links und Rechts würden noch stärker dazu herausfordern, die Demokratie zu verteidigen.
5. Russland: Dabei stünden die aktuellen Konflikte in der Ukraine um die Anerkennung der Krim im Fokus.
6. Destabilität im Nahen Osten: Die Frage nach mehr Verteidigungsausgaben und einem gemeinsamen Militär würden fortan noch intensiver diskutiert werden.
7. Unverlässliche Partner: Sowohl Türkei als auch die USA würden die Gefahr für das Scheitern multilateraler Handelsbeziehungen befeuern.
8. China: Durch die sehr positive Entwicklung in der Wirtschaft werde Europas Gewicht in der Welt zwangsläufig schrumpfen. Gleichzeitig stelle sich die Frage, wie Europa mit den neuen Technologien und dem steigenden Wettbewerb umgehen soll.
9. Nachhaltigkeit und Umweltschutz: Zuleeg glaubt, die Schülerproteste von #FridayForFuture und Greta Thunberg hätten tatsächlich viel dazu beigetragen, eine breitere Koalition zu schaffen, die immer wieder mehr Umweltfragen auf die Agenda bringt. Bei der Frage nach einer einheitlichen CO2-Steuer glaubt Zuleeg, es müsste zuerst auf die Länder Einfluss genommen werden.
10. Alternde Bevölkerung: Eine immer älter werdende Gesellschaft werde nicht mehr lange neue Innovationen schaffen. Daraus entstünden neue Kernfragen: Wie lange ist ein festes Rentenalter noch zeitgemäß? Und: Wie sollen die zwangsläufig folgenden höheren Staatsschulden und Ausgaben beschränkt werden?
Die Aufstellung von Dr. Fabian Zuleeg zeigt, dass viele Probleme globaler Natur sind und kaum von einzelnen Ländern allein gelöst werden können. Die Mitgliedsstaaten müssten, so sein Appell, wieder stärker aufeinander zugehen und miteinander kooperieren. Auf die Frage nach dem Vertrauensverlust in Europa und der Europäischen Union antwortet er, dass man wieder definieren müsse, warum wir Europa brauchen. Zudem müsse das Bewusstsein dafür gestärkt werden, wie man die Bürger mehr einbindet und Europa als politisches Thema wiederentdeckt.
Inga von der Stein: Die engagierte und involvierte Perspektive
Im dritten Teil des Workshops berichtet Inga von der Stein von ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Trainee in der Europäischen Kommission. Inga ist langjährige Autorin bei f1rstlife und hat nach ihrem Abitur vielfältige Erfahrungen in den Nachwuchsprogrammen der Europäischen Union erlebt. Neben dem Studium in “European Studies” und “Internationale Beziehungen” in Canterbury und Moskau war sie unter anderem Vize-Präsidentin der internationalen Studentenunion in Moskau, Praktikantin im Europäischen Parlament, im Auswärtigen Amt und bei einem Verband in Brüssel.
Nach einem interaktiven Quiz mit Insider-Fakten rund um Europa und die Europäische Union verdeutlichte sie anhand ihres eigenen Weges die Einfluss- und Beteiligungsmöglichkeiten, die ein junger Mensch in Brüssel hat. Neben Mitwirkungsportalen, die speziell für Erstwähler geschaffen wurden, bieten auch Praktika bei Abgeordneten eine gute Möglichkeit, sich zu beteiligen.
Doch die Einstiegsmöglichkeiten sind nicht immer einfach: Sprachzertifikate, Auslandserfahrung, Universitätsabschlüsse, Engagements und Erfahrungsstationen innerhalb der EU seien neben einem guten Motivationsschreiben entscheidend für die Auswahl. Inga rät dazu, auch die anderen Institutionen im Blick zu behalten, die Praktika vermitteln. Etwa: der Rat der Europäischen Union, der Europäische Gerichtshof, der Ausschuss der Regionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und viele mehr.
Anhand eines typischen Wochenplans skizzierte sie den Tagesablauf eines Trainees. Geregelt ginge es dabei nicht immer zu: Zusätzliche Vorträge, Netzwerk-Treffen und Veranstaltungen seien wichtig, um Kontakte zu knüpfen und über gemeinsame Interessen zu sprechen.
Insgesamt nannte sie viele Mitwirkungsmöglichkeiten auf EU-Ebene, die den Rahmen in diesem Text sprengen würden.
Deshalb der redaktionelle Vorschlag an dieser Stelle: Sprich uns an, wenn Du spezielle Fragen und Wünsche hast oder wende Dich direkt an unsere Autorin.
Fazit
Auch wenn wir es in der traditionellen Berichterstattung kaum wahrnehmen: Auf Europa kommen neue Herausforderungen hinzu, die national nicht zu lösen sind. Will Europa überzeugen, muss es einerseits die Menschen von der Idee Europas (wieder neu) überzeugen. Das geht über direktere Beteiligungsformate, über Bildung und Transparenz. Andererseits muss Europa mit seinem komplexen Funktionsapparat selbst seine Hausaufgaben machen und konkrete Schritte umsetzen. Dafür braucht es einerseits eine größere Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft. Andererseits: Den Mut dazu, klare Entscheidungen zu treffen und die Richtung Europas festzulegen. Außer Frage steht, dass junge Menschen bei der Europawahl gefordert sind. Nur rund 30 Prozent der 18- bis 30-Jährigen sind letztes Mal zur Wahl gegangen. Auch wenn ihr Anteil – gemessen am Altersspektrum der Gesellschaft – immer weiter sinkt, ist eines auch klar: Die Herausforderungen enden nicht in irgendeiner Schublade. Die Konsequenzen werden uns vielleicht schon in den kommenden fünf Jahren erneut vor die Frage stellen: Quo vadis, unser Europa?
Die Excellence and Leadership-Veranstaltung wurde finanziell unterstützt in Kooperation mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V.
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