Ein klares Bild von der Zukunft der EU gibt es nicht. Die einen fordern „mehr“ Europa, während in vielen Ländern die EU-kritischen Parteien regen Zulauf haben. Die europäische Idee krankt an den unterschiedlichen Vorstellungen von den Zielen der europäischen Einigung. Welche Zukunftsszenarien sind denkbar?
Zur Beschreibung der EU verwendet das Bundesverfassungsgericht die Wortneuschöpfung „Staatenverbund“, ein etwas irreführender Begriff, der auf einer Skala in der Mitte zwischen Staatenbund und Bundesstaat liegt. In einem Staatenbund arbeiten die Mitgliedsländer zur Lösung gemeinsamer Probleme zusammen, behalten aber ihre volle Souveränität. Beim Bundesstaat hingegen ist die Souveränität zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten geteilt. Die EU hätte folglich alleinige Zuständigkeiten und das EU-Recht stünde über dem der Mitgliedsstaaten, sodass diese sich auch Mehrheitsentscheidungen fügen müssten. Der aktuelle Zustand, ein Platz zwischen diesen beiden Leitbildern, bringt die EU immer wieder in die Bredouille. Häufig wird über Zuständigkeiten gestritten und über die Frage der Kompetenzabtretung diskutiert, also darüber, ob die Mitgliedsländer auf einen gewissen Teil ihrer Zuständigkeiten verzichten.
Am Beispiel der Außenpolitik wird die Lage der EU deutlich: Zwar gibt es die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, die den Rat für auswärtige Angelegenheiten, in dem alle EU-Außenminister vertreten sind, leitet und zu einem gemeinsamen außenpolitischen Ansatz führen soll, jedoch sind die Wege für Beschlüsse auf supranationaler Ebene mühsam und langwierig. Beispielsweise während des Mali-Konfliktes benötigten 27 EU-Außenminister zwei Treffen um zu entscheiden, dass eine Ausbildungsmission von 450 Personen nach Mali geschickt werden soll, wobei dieser Beschluss in den folgenden Wochen von den nationalen Parlamenten noch ratifiziert werden musste. Frankreich schickte in dieser Zeit bereits 4.000 Soldaten in den Einsatz nach Mali, der unter anderem auch von Deutschland logistisch unterstützt wurde.
Deshalb wird auch die Forderung nach mehr Kompetenzen für die EU laut, damit eine gemeinsame, schnelle und wirkungsvolle Politik möglich ist. Ist Europa aber schon so weit geeint, dass die Staaten bereit sind, ihre Zuständigkeiten zu vergemeinschaften und ist das überhaupt sinnvoll und gewollt? Auch kritisieren viele, dass der Kitt einer politischen Union, die gemeinsame europäische Identität, fehlt. Darüber hinaus wird wohl der bisher ungewisse Ausgang der Schuldenkrise immense Konsequenzen für die Zukunft der EU haben. Im Folgenden werden fünf Szenarien beschrieben, von denen allerdings manche wahrscheinlicher sind, als andere.
1. Szenario: Titanic
Innerhalb der EU nehmen Interessens- und Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten extrem zu, sodass es an Solidarität untereinander mangelt. Die hastigen Erweiterungen, die eigentlich eine Strukturreform der EU vorausgesetzt hätten, zeigen immer mehr die Schwächen des Systems bis hin zur Handlungsunfähigkeit auf. Mit mittlerweile 28 Mitgliedstaaten, Tendenz steigend, wird es nämlich immer schwieriger, zu einem Konsens zu kommen. Durch die anhaltende Schuldenkrise, die vor allem die Sozialsysteme belastet und die Währungsunion in Frage stellt, verlieren auch die Bürger zunehmend das Vertrauen in die EU. Die Grundlagen für ein gemeinsames politisches Handeln schwinden folglich immer mehr. Der Euro wird abgeschafft und die nationalen Währungen wieder eingeführt. Die Mitgliedstaaten übertragen keine Kompetenzen mehr an Brüssel, sondern bemühen sich vielmehr um eine Rückführung der Zuständigkeiten auf nationale Ebene. Dies schwächt wiederum die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes im globalen Vergleich. Durch die dann folgende Entscheidungs-, Handlungs- und Legitimationskrise verliert die EU massiv an Attraktivität sowohl innerhalb als auch außerhalb. Der Zerfall der europäischen Union könnte die Folge sein.
2. Szenario: Geschlossenes Kerneuropa
Unter den Mitgliedstaaten besteht keine Einigkeit bezüglich der zukünftigen Entwicklung der EU, die Idee einer föderativen politischen Union geht verloren. Da die EU aufgrund der Schuldenkrise massiv an Vertrauen verliert und keine Interessensgleichheit existiert, identifizieren sich die Bürger nicht mit dem Gedanken eines geeinten Europa, auch weil Nation und Region für sie identitätsstiftender sind. Die wirtschaftlichen Vorteile wegen des gemeinsamen Binnenmarktes werden weiterhin gerne genutzt, allerdings werden keine weiteren Zuständigkeiten an Brüssel übertragen. Eine Gruppe von Ländern entschließt sich jedoch zur Intensivierung ihrer Beziehungen auf vertraglicher Ebene um die Idee einer überstaatlichen politischen Union aufrechtzuerhalten. Dieses „geschlossene Kerneuropa“ schafft nach und nach neue Institutionen, um vor allem außenpolitisch geeint auftreten zu können und ersetzt somit nach und nach die Strukturen der EU.
3. Szenario: Die Monnet-Methode
In diesem mit der aktuellen Lage vergleichbaren Szenario wird die politische Einigung in kleinem Tempo vorangetrieben. Zu einer politischen Union kommt es allerdings nicht, weil die dafür notwendigen Reformen in einer EU von 28 Mitgliedstaaten nicht durchgesetzt werden können. Europa kann deshalb auch weiterhin nicht als einzelner Akteur im Weltgeschehen auftreten. Jedoch halten der Binnenmarkt und das Bewusstsein die Union zusammen, dass der europäische Integrationsprozess für eine Epoche des Friedens und der Stabilität auf einem vom Krieg geschüttelten Kontinent sorgte. Das System der EU wirkt lethargisch, weil große Veränderungen nicht in Angriff genommen werden. Aufgrund der internen Konsolidierungsprobleme und der Erweiterungsmüdigkeit der Bevölkerung wird Island deshalb wohl das letzte Land sein, das in absehbarer Zeit die Vollmitgliedschaft erhält.
4. Szenario: Offener Gravitationsraum
Die „differenzierte Integration“ ist das zentrale Merkmal dieses Szenarios. Integrationswillige Mitgliedstaaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in bestimmten Politikfeldern innerhalb geltender EU-Verträge. Der Vertrag von Lissabon bietet die Möglichkeit einer „verstärkten Zusammenarbeit“. Dafür werden im Gegensatz zum „geschlossenen Kerneuropa“ die bestehenden EU-Institutionen genutzt. Das Prinzip der Differenzierung erlaubt es aber auch den Mitgliedstaaten, die nicht willens oder fähig zu mehr Integration sind, sich dieser zu enthalten. Allerdings ist dieser Spielraum aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips beschränkt. Die Differenzierung bietet außerdem die Möglichkeit einer verstärkten Partizipationsmöglichkeit für Staaten, die auf absehbare Zeit keine Vollmitgliedschaft anstreben oder diese nicht erreichen können.
5. Szenario: Supermacht Europa
Anknüpfend an den Vertrag von Lissabon werden weitere integrationsfördernde Reformen des politischen Systems der EU in Angriff genommen. Grundlage dafür sind weitere Kompetenzübertragungen der Mitgliedstaaten an Brüssel. Ein positiver Verlauf der Schuldenkrise und die Bewältigung von wirtschaftlichen Ungleichheiten und Interessensunterschieden, sowie auch die Einigung bezüglich der Vorgehensweisen in bestimmten Situationen werden dafür allerdings vorausgesetzt. Die EU ist nun in der Lage, schnelle und wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen und in der globalen Politik geeint mit einer starken Stimme zu sprechen, was für eine positive EU-Stimmung in der Bevölkerung in der Bevölkerung sorgt. Die zunehmende wirtschaftliche und kulturelle Vernetzung unterstützt Auseinandersetzungen mit europäischen Themen und das Etablieren einer europäischen Öffentlichkeit als Anfang einer gemeinsamen Identität. Folglich übertragen die Mitgliedstaaten immer mehr Zuständigkeiten nach Brüssel bis der Bundesstaat Europa verwirklicht ist.
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