„Wenn ich als Erwachsene nach Auschwitz gekommen wäre, hätte ich mich umgebracht“, sagt Zdzislawa Wlodarczyk heute. Vor 72 Jahren wurde sie aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Sechs Monate verbrachte die damals Elfjährige im KZ. Sechs Monate des Grauens, der Erniedrigung, aber auch der Hoffnung.
„Wohin wir fuhren, wussten wir nicht“, erzählt Wlodarczyk über ihre Deportation nach Auschwitz. Dabei spielen ihre Finger mit einem weißen Taschentuch. Sie brauche etwas zum Festhalten, wenn sie ihre Geschichte erzählt, sagt sie.
Ihre Eltern, ihr kleiner Bruder und sie wurden aus dem Warschauer Ghetto geholt und einfach in einen Zug gesteckt. Irgendwann schlug ihr Vater immer wieder seinen Kopf an die Wand: Er ahnte, wohin es ging. „Mein Gott, mein Gott, warum Auschwitz?“, sagte er immer wieder, erinnert sich Wlodarczyk. Er wusste, was dort vor sich geht.
Das erste, was die kleine Zdzislawa hörte, als der Zug anhielt, waren Schreie, Hundegebell und das Pfeifen des Zuges. Alles auf einmal, wild durcheinander. Dann wurden alle aus dem Zug gejagt, Frauen und Männer getrennt, und mussten zwei, drei Tage in Holzbaracken ausharren.
Dort stank es nach Chlor, auf dem harten Boden gab es nichts als Sand. Überall nur Sand.
„Ich sah meinen Papa nie wieder“
„Wir haben Geld verbrannt, unsere letzten Sachen im Sand vergraben. Alles weg, nur die Deutschen sollten es nicht bekommen“, sagt Wlodarczyk und lächelt leicht. Sie erinnert sich, dass sie die ganze Zeit bei ihrem Papa bleiben wollte. Ein Instinkt war das, sagt sie. Denn ein paar Tage darauf wurde sie von ihm getrennt, sah ihren Papa nie wieder.
Der Rest der Familie wurde in die sogenannte Sauna gebracht, für Wlodarczyk ein Ort des Schreckens. Alle Frauen mussten sich nackt ausziehen, selbst die kleinste Haarspange abgeben. Dutzende nackte Frauen standen um sie herum. Um ein Mädchen, das zuvor noch nie jemanden nackt gesehen hatte.
„Ich habe davor meine Mutter nie nackt gesehen. Ich habe mich die ganze Zeit bemüht, nicht hinunterzusehen“, sagt Wlodarczyk und schaut ins Leere.
„So viele Frauen haben geblutet. Das Blut rann ihnen die Beine herunter“, erzählt sie weiter. Sie dachte, sie wären geschlagen worden, sie wären verletzt. Zdzislawa wusste nicht, dass sie die Periode hatten. Was die Periode überhaupt ist.
Die Lösung für die Periode im KZ
An einen Vorfall erinnert sie sich besonders: „Da war ein Mädchen, sie war so schön. Sie hatte lange Haare, schöne geflochtene Zöpfe. Auch sie blutete, war wegen ihrer Nacktheit und ihres Blutes sehr verschämt. Da hat sie ihre Haare aufgemacht, versucht, ihre Blöße zu bedecken. Und sich hingekniet, um sich klein zu machen und zu verstecken.“ Doch dann kam ein deutscher Offizier angestiefelt, baute sich breit vor ihr auf, erinnert sich Wlodarczyk.
„Sadistisch stand er vor ihr, hat ihr befohlen, aufzustehen, ihre Haare auf den Rücken zu legen. Und hat sie dann von oben bis unten gemustert“, sagt Wlodarczyk und schluckt tief, „es war so erniedrigend.“ Noch heute fällt es ihr schwer, selbst halbnackte Frauen am Strand zu sehen. Dabei wird ihr unwohl, schwindelig.
Als sie im Lager selbst ihre Tage bekommen hat, verzweifelte Zdzislawa zunächst. Es habe keine Binden gegeben, nichts dergleichen. Keine richtigen Toiletten, nur Plumpsklos, die meistens vor Fäkalien überschwappten, sagt sie.
„Ich habe dann eine Frau um Rat gefragt, die in der Küche arbeitete. Sie beruhigte mich, meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. In der Küche bekam ich dann eine Art Pulver, damit ich meine Tage vorerst nicht mehr bekam…“
„Sag bloß niemandem, wenn es dir schlecht geht“, wurde Zdzislawa auch häufig von Frauen geraten, die schon länger im Lager waren. Sonst würde sie zu Mengele geschickt, dem Arzt, der Experimente an Kindern und Menschen mit Behinderung durchgeführt hat.
„Ich dachte, ich sterbe“
„Ich hatte schrecklichen Durchfall. Es gab kein Wasser, kein Papier“, erzählt Wlodarczyk über die hygienischen Zustände. Sie dachte, sie stirbt. Zum Glück gab es zwei nette Häftlinge, die ihr ein tiefschwarzes, vollständig verkohltes Stück Kartoffel zum Essen gegeben haben. Dadurch habe sie so starkes Fieber bekommen, dass sie die Krankheit ausgeschwitzt habe.
Nicht nur die hygienischen Zustände waren schlimm für Zdzislawa. Auch wie mit den Müttern in Auschwitz umgegangen wurde. „Als die Mütter mal zu ihren Kindern wollten, wurden sie von den Deutschen mit Scheiße bespritzt“, erinnert sie sich.
Am schlimmsten fand Zdzislawa die Appelle morgens und abends. Die Kinder weinten häufig, versteckten sich. Jeden Morgen wurden sie gesucht. In den verschiedensten Ecken wurden tote Kinder gefunden, die Leichen vor den Block gelegt. Jeden Morgen das gleiche Prozedere.
Eines Morgens nach dem Appell hörte Zdzislawa, dass im Block ihrer Mutter eine Selektion stattfände. Sie schnappte sich ihren kleinen Bruder und rannte mit ihm zu diesem Block. Und tatsächlich: Dutzende von Frauen standen nackt vor einer Holzbaracke, bereit zur Selektion.
„Auf einmal hörten wir lautes Gepolter. Zwei Männer kamen mit einem großen Wagen an“, erzählt Wlodarczyk. Die beiden Kinder bekamen Angst, versteckten sich hinter einer Holzhütte. „Die Selektion beginnt“, dachten sie. Doch die Männer waren nicht auf dem Weg zu den Frauen, sondern zu der Holzhütte, hinter der sich Zdzislawa und ihr Bruder versteckten.
„Da haben sie aus der Hütte plötzlich tote Körper herausgeholt“, erzählt sie. Der eine nahm die Arme der Leichen, der andere die Beine. So haben sie Leiche für Leiche wie Puppen in den Wagen geschmissen.
Dem Todesmarsch entronnen
Bis heute kann Wlodarczyk die Ereignisse vor ihrem inneren Auge sehen, als wären sie gestern geschehen. Es habe so viele schlimme Momente gegeben, erzählt sie. Doch zum Glück auch hoffnungsvolle.
„Es gab gute Menschen im KZ“, sagt sie. Maria zum Beispiel. Ab und zu hätte sie der kleinen Zdzislawa ein Stückchen Zucker gegeben, oder auch mal ein Stückchen Fleisch aus der Küche. Und ihr immer gesagt, dass sie die Hoffnung nicht verlieren soll. Dass sie an die Schule, an ihre Familie denken soll. „Irgendwann wurde Maria kontrolliert, die SS-Leute fanden heraus, was sie tat“, sagt Wlodarczyk. Dann hätten sie sie mitgenommen, ermordet.
Die Hoffnung scheint für Zdzislawa, ihre Mutter und ihren Bruder jedoch etwas gebracht zu haben. Sie alle wurden befreit, überlebten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Zunächst sollten sie den Todesmarsch antreten. Die Erwachsenen standen alle vorne, die Kinder hinten. Der Fuß ihres Bruders aber war verletzt, provisorisch mit einem Tuch verbunden. Da schubste ihn ein Kapo, Zdzislawas Bruder fiel zu Boden. Zdzislawa erschreckte sich, schrie nach ihrer Mutter. Da schlug ihr der Kapo ins Gesicht, Eiter lief ihre Wange herunter. Die beiden Kinder sollten zurück ins Lager, wurden dort zurückgelassen.
„Ein paar Tage später befreite uns die Rote Armee“, sagt Wlodarczyk. Ihr Bruder und sie seien dann nach Krakau gelaufen, kamen in ein Waisenhaus, wo sie ihre Mutter einige Wochen später wiederfand.
Die Zeit in Auschwitz hat Wlodarczyk bis heute geprägt. Zuhause war das KZ immer ein Tabuthema gewesen, nie hat sie mit ihrer Mutter darüber sprechen können. Erst Jahrzehnte später konnte sie wirklich verstehen, was dort alles geschehen war.
Bernd Fritz
Was soll ich dazu sagen
grausam sehr grausam unbeschreiblich nicht zu vergleichen. hoffe es wird solche Erlebnisse nicht mehr geben.
soviel Leid darf es nicht mehr geben.