Im ersten Teil hat unsere Autorin von ihrer Stationsreise von einer Psychiatrie zur nächsten berichtet. Im zweiten ging es um externe Hilfsangebote und in diesem Artikel erzählt sie von ihren Wegzeigern, die sie Schritt für Schritt aus ihrer Wüste herausgeführt haben.
Ich bin auf einer Reise
Lange Zeit hegte ich den Gedanken in mir, dass ich hilflos wäre und mein Leben nicht mehr selbst gestalten könnte, bis ich eines Tages verstand: „Niemand wird dein Leben leben, wenn du es nicht lebst.“ So begann ich, mich auf eine Reise zu begeben und entdeckte eine Vielzahl an Möglichkeiten, zu mir selbst zu finden:
1) Ich tanze mich frei:
In einer Reha-Maßnahme wurde Tanztherapie angeboten. Dadurch fand ich wieder einen Zugang zu meinem Körper nach längerer Zeit. Auch das gemeinschaftliche Tanzen erlebte ich als bereichernd.
2) Kuscheltier-Therapie ausprobieren:
Da es mir schwerfiel, mich von anderen Menschen berühren zu lassen, probierte ich das Kuscheln mit Kuscheltieren aus, was ich als positiv erlebte.
3) Glaubenssätze entdecken und verändern:
In einer Gruppentherapie bin ich das erste Mal auf das Thema mit den Glaubenssätzen gestoßen. Oft haben wir diese nicht bewusst in unserem Inneren festgelegt, sondern sie haben sich durch Verletzungen unbewusst eingeschlichen. Zum Beispiel: „Ich bin nichts wert!“, „Ich bin nicht richtig!“ oder „Ich mache alles falsch!“ In der Therapie habe ich gelernt, diese Sätze in mir zu erkennen und neue Glaubenssätze festzulegen.
4) In der Tiefe Frieden finden:
Der absolute Wendepunkt war für mich, zu meinem christlichen Glauben zurückzufinden. Ich habe mein bisheriges Gottesbild über Bord geworfen und mithilfe der Bibel und anderen Menschen Gott neu entdecken dürfen. Dadurch bekam ich ein tragendes Fundament und durfte einen hoffnungsvollen Heilungsweg beschreiten.
5) Liebe und Annahme erfahren:
Im Zusammensein mit Gott erlebte ich immer mehr Liebe und Annahme. Ich erkannte, wie er mich nicht verurteilte, sondern mich mehr und mehr heilen wollte. So konnte ich mich selbst mehr annehmen.
6) Visuelle Darstellungen nutzen:
Um meine Konflikte darzustellen, benutzte ich bunte Zettel, baute mit Bausteinen meine Problemtürme oder malte Beziehungskonstellationen auf. Ich wollte verstehen, warum ich mich wie verhielt. Mehr und mehr verstand ich, dass ich gar nicht komisch war, sondern sah eine stimmige Gedanken-Gefühls-Verhaltens-Konstellationen.
7) Notfallkoffer packen:
In meinem Notfallkoffer waren Dinge, um mich selbst wieder spüren und regulieren zu können. Das betraf vorwiegend die Emotionen. Zum Inventar gehörten beispielsweise Massagebälle oder Duftstoffe.
8) Sich Regulationsstrategien aneignen:
Ich fragte mich selbst: „Wie stark bin ich gerade angespannt?“ Davor legte ich fest, was ich bei welchem Anspannungsgrad verändern wollte. Lag die Spannung zum Beispiel bei über 70 von 100 Punkten brauchte ich schnellstmöglich einen Rückzugsort und eventuell externe Hilfe.
9) Planung und Ordnung ist das halbe Leben:
Lange Zeit habe ich vieles ertragen und über mich ergehen lassen, bis ich eigenverantwortlicher wurde. Ich wollte nicht gegen meinen Willen in eine Psychiatrie eingewiesen werden. So legte ich mir ein Helfernetz an mit Kontaktpersonen, die über meine Situation Bescheid wussten.
10) Ich bin maßgeblich an meinem Lebenslauf beteiligt:
Ich nahm mich sehr lange entfremdet von mir selbst war. Ich war der Meinung, nichts verändern zu können, bis ich verstand, dass ich sehr wohl eine Wirkung hatte und ich Gestalter meines Lebens bin.
11) Die eigene Familiengeschichte kennenlernen:
Was haben meine (Groß-)eltern erlebt? Gibt es ein Trauma in der Familie? Welche Glaubensgrundsätze leben sie? Oft gibt es unbewusste Verhaltensmuster in Familien, mit denen man sich bewusst auseinandersetzen muss, um selbst entscheiden zu können, welche Muster man übernimmt oder verwirft.
12) Emotionen als Freund und Helfer:
Ich hatte sehr schwerwiegende Probleme, Emotionen wahrzunehmen und zu regulieren. Das drückte sich manchmal in extremen Verhaltensweisen aus oder in Dissoziationen. Mittlerweile fand ich einen Zugang zu meinen Gefühlen und bin mir bewusst, dass keine Emotion per se nur schlecht oder nur gut ist. Ich entscheide, wie ich sie einsetzen und nutzen möchte. So setzt eine gut kanalisierte Wut unheimliche Kräfte frei, die mir helfen können, erfolgreich eine Situation zu meistern. Wut kann aber auch blind machen, wenn sie keinen Ausweg findet.
13) In Beziehungen erkranken oder genesen:
Ich durfte neue Erfahrungen in Beziehungen machen, die innere Verletzungen in mir heilten. So erkannte ich, dass ich an manchen Menschen erkranken und wiederum mit anderen heilen konnte. Ich durfte Menschen kennenlernen, die mich wertschätzten und mir Annahme entgegenbrachten. Von toxischen Beziehungen verabschiedete ich mich nach und nach. Ich lernte langsam, mich abzugrenzen.
14) Grenzen setzen beziehungsweise annehmen:
Ich lernte, ein Gespür für meine Grenzen zu bekommen und gleichzeitig übte ich mich darin, die Grenzen anderer zu akzeptieren, ohne mich dabei abgelehnt zu fühlen.
15) Erinnerungszettel aufhängen:
Ich hängte mir Bibelverse, Sprüche oder Erkenntnisse auf, an die ich mich immer wieder erinnern wollte. Das war wie eine Stütze im wilden Alltag.
16) Frühzeitig und rechtzeitig handeln:
Ich hatte lange die Überzeugung, dass es mir so schlecht nicht ginge und dass ich eigentlich keine Hilfe bräuchte. Als mir dann doch alles zu viel wurde, nahm ich jede Hilfe panisch an, die mir irgendwie in die Quere kam. Das brachte mir oft zusätzliche Probleme ein. Daher lernte ich, frühzeitiger und ruhiger zu handeln in dem Stadium, in dem ich noch klare Gedanken fassen konnte.
17) Ratschläge für sich abwägen:
Ich habe viele Ratschläge von Menschen bekommen und mich dabei oft unverstanden gefühlt. Da ich aber den Glaubensgrundsatz hatte, dass andere immer recht haben, hielt ich mich selbst für eine Versagerin. Später lernte ich, die Meinung der anderen zu akzeptieren, aber traf meine eigenen Entscheidungen, wie ich mit den Ratschlägen und Tipps umgehen wollte.
18) Ins kalte Wasser springen:
Ich hatte immer wieder Situationen, in denen ich dachte: „Das darf doch nicht wahr sein!“ und ich stellte mich oft quer und trotzig. Im Nachhinein erlebte ich aber in der Überwindung und der Konfrontation mit schwierigen Situationen auch eine Heilung und Freude in meinem Herzen.
19) Ausdrucksmöglichkeiten finden:
Ich stellte fest, dass ich mich mithilfe von kreativen Ausdrucksmöglichkeiten (z. B. tanzen, malen, singen, gärtnern, basteln, schreiben, sprechen, Theater spielen etc.) meinem inneren Schmerz nähern und ihn verarbeiten konnte.
20) Gedanken und Schmerzen laut aussprechen:
In der Therapie oder in der Seelsorge machte ich die Erfahrung, wie das laute Aussprechen der eigenen Wahrnehmung, Schmerzen, Gefühle und Gedanken heilsam sein kann. Oder auch wenn der Therapeut beispielsweise seine Einschätzung laut ausspricht oder wiederholt, was er von meinem Gesagten verstanden hat.
21) Rollenwechsel erleben:
Ich durfte in meinem Leben verschiedene Rollen kennenlernen. So war ich beispielsweise lange Zeit Patientin, aber während meines Studiums mehr in der Rolle einer Therapeutin. Ich war Schülerin, aber später auch Lehrerin. Diese Rollenwechsel haben mir geholfen, mehr Perspektiven kennenzulernen und mehr Verständnis für ein bestimmtes Verhalten meiner Mitmenschen zu entwickeln.
22) Erwartungen loslassen und verabschieden:
Ich hatte die Tendenz, große Erwartungen an mein Umfeld zu hegen. Sie sollten mich lieben, mir Gutes tun, mich sehen und verstehen. Diese Erwartungen lösten sich immer mehr auf, als ich meine eigenen Bedürfnisse kennenlernte, sie verstand und mich eigenverantwortlich darum kümmerte.
23) Reibung zulassen, um die eigenen Schmerzen zu erkennen:
Ich hatte lange Zeit die Überzeugung, dass mir mein Umfeld nicht guttat und ich frei von bestimmten Menschen werden musste. Auf der Arbeitsstelle hat mich zum Beispiel eine Kollegin immer sehr genervt und ich dachte: „Wäre doch die bloß nicht hier, dann ginge es mir besser!“ Später verstand ich, dass in dem, was mich an dem anderen nervt, mein eigener Schmerz lag. Mit der Arbeitskollegin fühlte ich mich ohnmächtig, weil ich das Gefühl hatte, dass ich nichts regulieren oder verändern konnte. Deshalb wollte ich sie loswerden. Der gespiegelte Schmerz lautete: „Ich bin so klein und wehrlos. Mit mir kann jeder machen, was er will!“
24) Frei werden für den anderen:
Mit der Zeit bemerkte ich, dass je mehr ich mich mit mir selbst und meinen inneren Baustellen beschäftigte, ich empathischer mit anderen Menschen umgehen konnte. Ich musste nicht mehr von anderen Menschen loskommen, weil ich sie für meinen inneren Schmerz verantwortlich machte, sondern ich konnte das Zusammensein mit anderen mehr als ein Lerngeschenk ansehen, auch wenn mal Konflikte entstanden.
25) Gewaltfreie Kommunikation:
Mich haben Gesprächssituationen oft überfordert, weil ich sie über mich ergehen ließ oder einfach nicht wusste, was ich sagen sollte. So lernte ich verschiedene Gesprächstechniken kennen und probierte aus, was zu mir passte. Ich lernte, mich selbst zu behaupten, auch in schwierigen und anstrengenden Gesprächen.
26) Der andere muss sich nicht für mich verändern:
Ich habe viel Kraft dafür verschwendet, mein Umfeld zu verändern, bis ich bemerkte, dass ich nur mich selbst verändern kann. Ich entdeckte ein großes Kontrollbedürfnis dahinter und bekam mehr Einblicke in mein Verhalten und meine Motiven.
27) extreme Positionen loslassen:
Ich war oft sehr verzweifelt, weil ich mich an einzelnen Hoffnungsschimmern festgehalten habe. So fieberte ich auf diesen einen Arzttermin zu, von dem ich hoffte, dass er mein ganzes Leben verändern wird. Oder ich versteifte mich auf eine Therapeutin, die mir unbedingt helfen sollte. Ich lernte mit der Zeit, eher das Bedürfnis hinter diesen extremen Erwartungen zu erkennen und sie anders zu füllen.
Welche Wegzeiger und Oasen mir zukünftig noch begegnen werden? Ich bin jedenfalls gespannt darauf und laufe heute immer noch auf meinem Heilungs- und Genesungsweg, in aller Geduld und Zuversicht.
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