Ob in Konzerthallen, Kirchen oder in der Fußgängerzone – wenn man durch die Straßen Wolfenbüttels geht, hört man sie an jeder Ecke singen. Alle zwei Jahre treffen Chöre aus aller Welt zum Eurotreff in Wolfenbüttel, nahe Braunschweig, zusammen. Fünf Tage lang ist dieses internationale Chorfestival, das vom Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ) veranstaltet wird. Der 17. Eurotreff steht in diesem Jahr unter dem Motto „Klänge der Stadt“. Unsere Autorin hat den ukrainischen Kinderchor „Vivat Musica“ von der Ankunft in Braunschweig bis zum Abschlusskonzert begleitet.
Langsam füllt sich die Lindenhalle in Wolfenbüttel. Ein Stimmenwirrwarr aus unterschiedlichen Sprachen ist zu hören. Aufgeregte Kinder laufen durch die Halle. Die teilnehmenden Chöre sitzen bereits in prächtigen Kleidern auf ihren zugewiesenen Plätzen. Der ein oder andere Chor singt sich hier noch einmal ein, bevor das Eröffnungskonzert beginnt. Auf einem Vorhang ist die Aufschrift „Eurotreff 2015“ zu lesen. An den Wänden hängen die Flaggen der Länder, die sich am diesjährigen Eurotreff beteiligen. Das Licht geht aus. Einzig ein Scheinwerfer beleuchtet die Deutschland-Flagge im Raum. Der erste deutsche Chor beginnt mit seinem Auftritt. Jeder teilnehmende darf an diesem Abend ein Lied präsentieren, mit dem nicht nur der Chor selbst, sondern auch die jeweilige Nation präsentiert wird.
Viele verschiedene Nationalitäten präsentieren sich beim Eurotreff
Neunzehn Chöre aus zehn unterschiedlichen Nationen nehmen in diesem Jahr am Eurotreff teil. Darunter sind Estland, Bulgarien, Lettland, die Türkei, Griechenland, Polen, Weißrussland und die Ukraine. „Meinen“ Chor erkenne ich darunter schon von weitem. Die Kinder tragen blau-gelbe T-Shirts mit der Aufschrift „Vivat Musica“. Müde, aber glücklich sehen sie nach ihrem Auftritt aus. Die lange Reise nach Deutschland sowie die Aufregung vorm Eröffnungskonzert hat ihnen sehr zu schaffen gemacht.
Ich gehe mit dem Chor zum Bus, der uns in die Jugendherberge nach Braunschweig bringt. Während des Festivals betreue ich den ukrainischen Kinderchor, d.h. ich bringe den Chor zu den Atelierproben und Konzertorten, ich dolmetsche und organisiere den Tagesablauf des Chores. Insgesamt arbeiten dreizehn ChorbetreuerInnen auf dem Festival. Man erkennt sie an den roten AMJ-T-Shirts und Schlüsselbändern. Von der Jugendherberge hole ich den Chor auch am nächsten Tag wieder ab. Zusammen fahren wir mit dem Bus nach Wolfenbüttel, wo der Chor heute ein Konzert in der Wilhelm-Busch-Grundschule gibt.
Kulturaustausch während des Schulkonzertes
Was erst einmal unspektakulär klingen mag, wird am Ende ein tolles Konzert, in dem der Kulturaustausch nicht zu kurz kommt! In blauen Röcken, weißen Blusen und bunten Blumen in den Haaren präsentiert sich der Chor den Grundschulkindern. Sie singen den Kindern Lieder aus ihrer Heimat vor und bringen ihnen so die ukrainische Kultur näher. Die Schulkinder sind begeistert – so begeistert, dass sie nun auch einmal selber ein paar deutsche Lieder präsentieren möchten. So sieht wohl ein wahrer Kulturaustausch aus! Mit viel Applaus von beiden Seiten endet das Schulkonzert.
Am Nachmittag führe ich den Chor in die St. Johannis Gemeinde, wo eine sogenannte „Atelier-Probe“ stattfindet. Ein deutscher Chor – in unserem Fall der Christophorus-Chor Altensteig – trifft hier mit einem ausländischen Chor zusammen. Gemeinsam erarbeiten sie ein Repertoire, das sie während des Abschlusskonzertes am Samstag-Abend vortragen. Mit vielen Bewegungen bringt Hans de Gilde, der Atelierleiter, den beiden Chören auf Englisch das Konzertprogramm bei.
Zeichen setzen für den Frieden in Europa
Gerade auch politisch setzt der Eurotreff in Zeiten der Ukraine-Krise, der Flüchtlingsströme, die aus Kriegsländern nach Europa fliehen und der Finanzkrise in Griechenland ein Zeichen für ein friedliches Zusammenleben in Europa. Diese politische Bedeutung wird vor allem während der Begegnungskonzerte am Donnerstag und Freitag-Abend deutlich. „Vivat Musica“ gibt am Freitagabend zusammen mit dem Schedrik-Chor ein Konzert in der Landesmusikakademie. Die Sprache des jeweils anderen Chors verstehen sie nicht, dennoch singen beide Chöre schon während der Probe einen ukrainischen Kanon zusammen. Dieses gemeinsame Lied bildet schließlich auch den krönenden Abschluss des Konzertes.
Am Samstagvormittag steht das traditionelle Singen in der Fußgängerzone auf dem Programm. Zu unterschiedlichen Zeiten singen die Chöre in verschiedenen Ecken der Wolfenbütteler Innenstadt. Ohne Klavier, ohne Einsingen und ohne Konzertkleider – die Stimmung aber ist auf dem Höhepunkt. Schnell füllen sich die Krambuden, als „Vivat Musica“ mit dem Singen beginnt. Immer mehr Menschen strömen aus den Geschäften und den Straßen hierher. Es wird mitgeklatscht und gesungen. Der ein oder andere Zuschauer sucht nach etwas Kleingeld und spendet es dem Musikverein.
Der Höhepunkt des Festivals: Das Abschlusskonzert
Nach diesem musikalischen Vormittag finden sich die Chöre mittags in der Lindenhalle zusammen, wo eine letzte Stell- und Generalprobe mit dem Atelierleiter stattfindet. Die Sängerinnen und Sänger sind aufgeregt; die Stimmung ist bislang noch angespannt. Die Kleider sitzen noch nicht richtig, die Aufstellung muss noch einmal neu durchdacht und die Bewegungen zu den einzelnen Liedern aufgefrischt werden. Nun bleibt mir vorerst nur noch eine Aufgabe: Den Chor an die reservierten Plätze in der festlich geschmückten Lindenhalle zu bringen.
Mit feierlichen Eröffnungsreden beginnt der Abend, bevor die einzelnen Ateliers ihre erprobten Werke vorstellen. Mein Chor ist gleich ziemlich am Anfang dran. Mit dem „Streetseller“ starten sie gleich mit einem sehr peppigen Song und stecken damit auch die Zuschauer an. Für das nächste Lied verteilt sich der Chor in einem großen Kreis in der ganzen Halle, wo die Sängerinnen und Sänger sehr andächtig das „Agnus Dei“ singen. „Augen in der Großstadt“ feiert an diesem Abend eine Uraufführung. Das Lied wurde speziell für den diesjährigen Eurotreff geschrieben. Tosender Beifall seitens des Publikums. Auch ich bin sehr stolz, was „mein“ Chor in so kurzer Zeit alles gelernt hat.
Der Vorhang fällt. Ein tolles Festival endet, das gerade in Zeiten der Ukraine-Krise, des IS-Terrorismus und der Flüchtlingskrise ein Zeichen für ein friedliches Zusammenleben in Europa setzt. Wenngleich auch hinter den Kulissen sehr ungleiche Arbeitsbedingungen für die Helfer des Festivals herrschen. Der Zeitplan ist sehr eng getaktet, sodass für die Chöre, die teilweise sehr lange Anreisen hinter sich haben, kaum Zeit bleibt, um sich Deutschland einmal genauer anzuschauen. Dennoch sind die Begegnungen zwischen den unterschiedlichen Nationen ein unbezahlbares Geschenk.
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