Ohne es absichtlich so geplant zu haben, taucht Norina an einem einzigen Tag im Oktober 2024 tief in zwei sich gegenseitig ausgrenzende Lebensrealitäten in und um Jerusalem ein. Den Vormittag verbringt sie unter vergnügt studierenden jungen Jüdinnen und am Nachmittag schüttet ihr eine muslimische Freundin aus Ostjerusalem ihr Herz über die Zustände und Bedingungen in ihrer Community aus.
Um sechs Uhr klingelt der Wecker, eine ungewohnt frühe Zeit für diese Tage. Wegen der hohen Herbstfeiertage Rosh HaShana, Yom Kippur und Sukkot beginnt das Semester erst in drei Wochen. Alle dringenden Deadlines wurden bereits im vergangenen Monat bedient. Momentan ist der einzige stressauslösende Gedanke der nach dem Thema der Masterarbeit, für die ich noch ein ganzes akademisches Jahr Zeit habe. Vielleicht weil es so ungewöhnlich ist, zu solch früher Stunde aus dem Bett zu kommen, fällt es mir vergleichsweise leicht, zügig nach dem Wecker aufzustehen.
Eine umkämpfte Entscheidung
Am vorangegangenen Abend hatte ich mit meinen Eltern noch ernsthaft diskutiert, ob es weise sei, die nun anstehende Reise tatsächlich durchzuführen. Zuerst waren wir gemeinsam der Meinung, dass der Weg zu gefährlich erscheint, weil er mich an Betlehem vorbei zu einem Kibbutz inmitten der südlichen Westbank führen würde. Dann wurden die Sorgen so weit von meiner Freundin relativiert, dass schließlich auch mein Vater sein „Okay“ gegeben hat. Deswegen ist der heutige Trip auch etwas aufregender als sonst.
Der letzte iranische Großangriff ist genau eine Woche her, genauso wie der Terroranschlag in Tel Aviv. Israels Antwort auf die iranischen Raketen steht noch aus. Die Bodenoffensive im Libanon ist in vollem Gange, Raketenhagel über den Norden Israels hinaus sind an der Tagesordnung. Mein Gebet ist wie immer, dass Gott mich von Gefahr abhält, auch indem er Pläne zustande kommen lässt oder sie zunichtemacht. Besonders in der Anfangszeit des aktuellen Israel-Hamas-(mittlerweile Hezbollah und Iran-)Kriegs habe ich regelmäßig gebetet, dass Gott mich nicht in Busse einsteigen lässt, wenn dort eine Gefahr lauern könnte. Das gleiche Gebet habe ich am vorigen Abend und am heutigen Morgen gesprochen.
Mit dem Bus in die judäische Hügellandschaft bzw. südliche Westbank
Ich steige also in den ersten Bus in Richtung Stadtzentrum ein und stelle fest, dass die Stadt schon sehr viel früher auf den Beinen ist, als mein komfortables Studentenleben mich spüren lässt. Den Anschlussbus sollte ich problemlos bekommen, weil ich ausreichend Umsteigezeit eingeplant habe. Oder auch nicht… Denn dort, wo sowohl Google Maps als auch Moovit meine Haltestelle anzeigen, kann unmöglich irgendein Bus halten: es ist eine Baustelle ohne Hinweisschild auf die alternative Haltestelle. Ich laufe die Straße hoch und runter ohne Erfolg; ich habe den Bus verpasst. Der nächste dieser Art fährt in drei Stunden. Ist das ein Zeichen? Sollte ich die Reise lieber abblasen?
Ich suche nach einer alternativen Verbindung und finde eine Route, die meine Freundin als zu gefährlich einschätzt, weil ich 17 Minuten an der Hauptstraße entlang zum Kibbutz laufen müsste. Doch dann wird mir ein weiterer Bus angezeigt, in den ich für das letzte Stück einsteigen könnte. Also entscheide ich mich einmal mehr für das Abenteuer. Ich setze mich in den Bus, der Jerusalem nach Süden in die Westbank verlässt, östlich an Bethlehem vorbeifährt und mich in der Nähe von Kibbutz Migdal Oz absetzt; mein erster Trip ganz allein in die südliche Westbank.
Im Beit Midrash für junge Frauen
Kurz vor neun komme ich am Beit Midrash meiner jüdischen Freundin Liele an, die für den Monat vor Yom Kippur dorthin, zu ihrer früheren Schule für religiöse Studien, zurückgekehrt ist. Die judäische Hügellandschaft, in der sich der Kibbutz mit Beit Midrash befindet, ist atemberaubend schön. Bisher habe ich mich in dieser Umgebung aufgrund der Kriegssituation noch gar nicht umgesehen.
Das letzte Mal, als ich kurz davor gewesen bin, gemeinsam mit meinem Bruder Bethlehem zu besuchen, haben uns Freunde nachdrücklich davon abgeraten. Stattdessen sind wir nach Cäsarea gefahren und haben abends festgestellt, dass genau an dem Tag die IDF-Operation Summer Camp im Westjordanland begonnen wurde. Doch jetzt bin ich mitten in Judäa in dieser wunderschönen Mädchen-Schule, an der junge Frauen nach ihrem Abitur vor oder nach dem Freiwilligendienst Tora, Talmud und Halacha studieren können. Ich fühle mich geehrt, dass ich als deutsche Nicht-Jüdin diesen Ort besuchen darf. Und vor allem genieße ich die gemeinsame Zeit mit Liele sehr.
Die Begegnung an der Bushaltestelle und ihre Folgen
Immer wieder denke ich an die Geschichte zurück, wie wir uns kennengelernt haben, denn sie ist einfach so schön, sehr besonders. Irgendwann im regnerischen Winter des vergangenen Jahres habe ich an einer Bushaltestelle im Regen auf den Bus gewartet, der einfach nicht kommen wollte. Ich war auf dem Weg zum Gottesdienst in der Altstadt. Liele hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Freiwilligendienst im Hadassa-Krankenhaus direkt neben meiner Uni und dem Studentenwohnheim absolviert und wartete ebenfalls auf den Bus.
Sie sah nett aus, also habe ich sie angesprochen und wir kamen schnell ins Gespräch, wortwörtlich über Gott und die Welt. Tatsächlich kam irgendwann ein Bus. Wir stiegen zusammen ein, unterhielten uns über Unterschiede und Gemeinsamkeiten unseres jeweiligen Glaubens und tauschten am Ende Nummern aus. Daraus entwickelte sich eine wertvolle Freundschaft, die mir die Tür zu besonderen Erfahrungen im Kreise einer jüdisch-orthodoxen Familie geöffnet hat.
Nachdem Liele und ich immer wieder leidenschaftlich theologische Fragen nach Feierabend debattiert hatten, durfte ich mit ihrer Familie den Seder-Abend des Passah-Festes feiern. Daraufhin habe ich immer wieder den Shabbat-Abend mit dieser herzlichen und wunderbar lebendigen Familie verbracht, sowie vor kurzem Rosh HaShana, das jüdische Neujahr und Fest der Trompeten gefeiert. Ich bin begeistert, wie Gott solche einmaligen Begegnungen schafft.
Liele ist die älteste von fünf Geschwistern und im Kreise ihrer Familie wurde ich ein ums andere Mal entweder gemeinsam mit meiner Freundin Annalie oder mit meinem Bruder Adrian herzlich aufgenommen. An jedem dieser Abende wird viel gelacht, erzählt, debattiert, nachgefragt, gelernt, erklärt, gedankt, ausgetauscht und gebetet. Und nun durfte ich den Ort besuchen, von dem mir Liele immer wieder mit leuchtenden Augen berichtet hatte.
In Kürze lest ihr hier auf f1rstlife den zweiten Teil ihres Berichtes.
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