Durs Grünbein wurde in der deutschsprachigen Literaturszene als Lyriker bekannt. Nun hat er seinen ersten Prosaband vorgelegt. Wir waren bei einer Lesung des Autors im Münchner Literaturhaus zugegen.
Wer im Duden nachschlägt, um herauszufinden, was ein „Kaleidoskop“ ist, findet in diesem Wörterbuch zwei unterschiedliche Bedeutungen. Ein Kaleidoskop ist zunächst ein „optisches, in seiner Form an ein Fernrohr erinnerndes Spielzeug, bei dem durch mehrfache Spiegelung von bunten Glassteinchen im Innern, die sich durch Drehen jeweils anders zusammenfügen, wechselnde geometrische Bilder und Muster erscheinen.“ Neben diesem Kinderspielzeug kann ein Kaleidoskop aber auch sinnbildlich gemeint sein als „lebendig-bunte [Bilder]folge; buntes Allerlei, bunter Wechsel bei etwas“. Je nach dem Kontext also.
Durs Grünbein, Jahrgang 1962, gab seinem neuesten Opus – zugleich sein erstes längeres Prosastück – bezeichnenderweise den Untertitel „Ein Kaleidoskop“. Seine literarische Existenz hat sich Grünbein als Verfasser von nüchterner, klarer und auch sezierender Poesie in der Nachfolge eines Gottfried Benn erkämpft. Bereits in jungen Jahren kam es zu ersten Veröffentlichungen in renommierten Verlagen, angefangen mit „Grauzonen morgens“, erschienen im Suhrkamp-Verlag 1988. 1995 erhielt er bereits den arrivierten Georg-Büchner-Preis. Gerade die frühe Bekanntheit des „poeta doctus“, wie er unter Literaturkritikern genannt wird, lässt nicht nur Faszination von der Person Durs Grünbein ausgehen, sondern auch Polarisierung.
Anspruchsvoll und gespickt mit biografischen Elementen
Bei seiner Lesung aus seinem Buch „Die Jahre im Zoo“ letzten Mittwoch im Münchner Literaturhaus erklärte Durs Grünbein zunächst den Titel. Zoologische Gärten haben ihn in seiner Kindheit lange angezogen, doch auch das Zoogefühl selber in seiner Eingeschlossenheit sei für ihn ein Gefühl des Lebens im Unrechtsstaat DDR gewesen. Grünbein, der aus dem Dresdener Vorort Hellerau stammt, forscht und gräbt wie ein Archäologe, so hat man den Eindruck wenigstens beim Lesen, nach seinem Stückchen Lebensgeschichte in der DDR und kramt dabei all die Eindrücke, die ihm heute noch bewusster scheinen als damals, hervor. Diese Zerrissenheit musste er sich mit der Sammlung kleiner Stückchen, wie man das Buch eigentlich bezeichnen müsste, erarbeiten. Sie bilden manchmal lose Rätsel zum Nachdenken, so der Eindruck des kritischen Lesers und Zuhörers. Denn wieso erinnert sich Grünbein beim Betrachten des Vesuvs ausgerechnet an den Hellerauer Müllberg, dem Ort, wo „Erinnerungen begraben“ wurden, dem Ort, wo die Kinder unnütze Artefakte fanden? Beide Flecken Erde, der Müllberg der Kindheit und der Vulkan Vesuv, verbindet das Dampfen.
Wer Grünbeins Vergleiche weit hergeholt und künstlich findet, sollte besser die Finger von diesem Schmöker lassen. Wer sich allerdings an schönen Wortspielen und Motiven, die die Erinnerung in die Gegenwart zu holen versuchen, erfreuen kann, dem sei auch noch gesagt, was Grünbein aus den 16 Stunden, die ein Literat am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Hellerau verbrachte, auszuschöpfen vermag. An Kafka nämlich, der sozusagen „vor der Gartentür spazieren ging“, zeigt uns Grünbein sein Wissen, das nicht zu bändigen ist hinter den Absperrungen für die Zootiere. Für Grünbein ist Kafka nämlich nicht nur unter literaturgeschichtlichen Aspekten interessant, sondern auch politikgeschichtlich. „Es gibt nur wenige Autoren, die sich wie er einschreiben, wenn man sie liest. Diese ungeheure Intensität brannte sich auch bei mir beim Lesen ein. Die Zustände, die Kafka in seinen Erzählungen beschrieb, kamen einem in einem Staat wie der DDR scheinbar bekannt vor.“
Dresden gestern und heute
Doch auch am Dresden der Gegenwart schlägt Grünbein während des moderierten Gespräches vor allen Dingen kritische Töne an: „Wir leben in einer Übergangszeit“, kommentiert er während der Lesung die aktuelle Befindlichkeitslage in der für ihn „östlichsten und westlichsten Stadt“. Mehr will er zu den aktuellen Geschehnissen der montäglichen PEGIDA-Märsche nicht sagen, doch auf so viel lässt er sich noch ein: Es gebe eine „Wiederkehr an Motiven, gerade an diesem Ort.“ Er nennt die „fatale Zerstörung“, die Zerbombung der Stadt im Ausgang des Zweiten Weltkriegs, die aber dann auch „eine narzisstisch betriebene Erinnerungskultur am Untergang der Stadt“ schon zu DDR-Zeiten hervorgebracht habe. Man habe durch das Ereignis versucht, „den Osten gegen den Westen auszuspielen“. Ein anderes „Kippbild“ sei in den 90er Jahren entstanden, als Dresden zum „Sammelbecken für rechte Memorialversammlungen“ wurde und der „Opfermythos“ eine neue Radikalität erreichte. Einerseits sei Dresden also ein „Musenort des Barock“, andererseits eine „ewig virulente Küche für Geschichtstendenzen“. „Die Erinnerung kommt dort nicht zur Ruhe.“
Die Erinnerung sei nicht unmittelbar gegeben, meint Grünbein, sie sei „erarbeitet“. Deswegen sei auch sein Werk eine „Rekonstruktion der Kindheit, eine Besprechung, eine Historisierung“. Lyrisch: „Kindheit ist aus / Kind steckt noch drin.“ Diese Verse strahlen Licht hinein in die Ereignisse der Kindheit, hinein auch in einen Staat, den es nicht mehr gibt. Auch die Prosa funkelt bei diesem Autor, seine angelesene, auktoriale Allwissenheit erzeugt Bilder, die sich spiegeln, die sich drehen und die sich wieder neu zusammenfügen. Wir haben es bei den „Jahren im Zoo“ mit einer wilden, unbestimmten Textmontage zu tun, mit einem Prosagedicht, mit einem Versbericht, mit Bildern in Worten, mit Worten in Bildern. Eben mit einem Kaleidoskop der eigenen Kindheit. Einem Versuch, wie ein Mann der Poesie auch in die eigene wie allgemeine Historie eindringen und sie erobern will.
Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 400 Seiten. 24,95 EUR. ISBN: 978-3-518-42491-9.
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