Pünktlichkeit? Kochrezepte? Höflichkeit? Kathrin hat zwei Jahre im Nahen Osten gelebt. Und muss schmunzeln, wenn jemand behauptet, es sei herausfordernd gewesen. “Einfach nur anders” würde es besser beschreiben. Lest hier ihren Bericht.
Nachdem ich nach zwei Jahren in der arabischen Welt zum ersten Mal wieder in Deutschland in der Bäckerei stehe, bin ich überfordert: Nussbrot, Schwarzbrot, Saatenbrot – oder vielleicht doch ein Ciabatta? Oh ja, wie sehr habe ich das gute deutsche „Abendbrot“ – leckeres, frisches, fluffiges Brot mit Käse und Wurst – in den letzten zwei Jahren vermisst.
Brot? Klar! Aber doch nicht mit Nüssen oder Saaten drin!
Doch wie konnte ich das früher jeden Abend essen? Habe ich doch in der arabischen Welt gelernt, dass Brot keine Mahlzeit ist, sondern viel eher eine lebenswichtige Beilage zu jedem Essen, egal ob zu Nudeln oder Reis. Brot kann sich jeder leisten, umgerechnet bezahlt man für zehn Fladenbrote 50 Cent, Brot gibt es an jeder Ecke und in jedem Kiosk zu kaufen, Brot gibt es zum Frühstück, Mittag und Abendessen. Aber doch bitte nicht mit Nüssen, in schwarzer Farbe oder mit Saaten drin?!
„Wie lange brauchst du noch?“, frage ich meine arabische Freundin? „In fünf Minuten bin ich da!“ Diese fünf Minuten machen mich skeptisch – kann ich dem wirklich trauen…? Nach 20 Minuten rufe ich meine Freundin wieder an. „Wo steckst du?“ Im Hintergrund höre ich Autohupen. „Gleich bin ich da!“, versucht sie mich zu beruhigen. Das Essen steht fertig gekocht auf dem Herd und ich muss mich zusammenreißen, um mich nicht aufzuregen.
Sich verspäten hat gute Gründe
Na toll, denke ich mir. Umsonst Stress gemacht. Aber warum habe ich mir eigentlich so einen Stress gemacht – die Flexibilität und das Zuspätkommen müssten mir doch eigentlich schon gewohnt sein. Und sie waren mir schon oft zum Vorteil gewesen: wenn ich unerwartet Besuch von der Nachbarin bekommen habe, die ich nicht einfach wegschicken konnte, etwas noch schnell erledigen musste, mit meinem Mann ein Gespräch zu Ende führen oder vielleicht einfach nur etwas länger schlafen wollte. Am besten, ich stresse mich nicht mehr so – niemand erwartet von mir, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch steht.
Von rechts kommen Autos, von links kommen Autos – und ich will über die Straße. Gut, dass ich nicht in Deutschland lebe, denke ich mir. Es würde ja ewig dauern, bis die Fußgängerampel grün werden würde. Hier stelle ich mich einfach auf die Straße und bei der kleinsten Autolücke überquere ich sie. Automatisch fahren die Autos an mir vorbei oder halten freundlicherweise sogar an. In Deutschland würden mir die Autofahrer nur einen Vogel zeigen. Wenn ich doch mal zu faul bin, vom Supermarkt nach Hause zu laufen, stehen an jeder Ecke gelbe Taxis bereit, die mich für einen Spottpreis nach Hause transportieren.
Herr Taxifahrer, Handy weglegen beim Autofahren
Auf der Fahrt nach Hause genieße ich die laute arabische Musik und den Wind, der mir durch das offene Fenster um die Ohren weht. Nur eine Sache stört mich: immer wieder schaut der Taxifahrer aufs Handy, schreibt Facebook-Posts, ändert das Lied, oder ruft seinen Habibi, Freund, an. Seine Blicke sind auf jeden Fall mehr auf den Bildschirm gerichtet als auf die Straße. Vielleicht freue ich mich doch wieder auf die deutsche Verkehrsordnung – es dauert zwar alles ein bisschen länger, dafür sind die Autofahrer vielleicht ein bisschen konzentrierter …?
“Hilf mir! So viele Dokumente?! Was bedeutet das? Ich verstehe nichts.“ Ich lese mir einen Brief vom Landratsamt an eine geflüchtete Freundin in Deutschland durch und verstehe selbst nur Bahnhof. Ich versuche mich zu konzentrieren, lese es nochmal langsam durch und versuche die Infos, die ich verstanden habe, auf Arabisch zu übersetzen. „Die Arme“, denke ich mir.
Führerschein? Auch mal eine Frage der Beziehung
Mit einem Lächeln auf den Lippen denke ich daran zurück, wie einfach mein Mann in der arabischen Welt seinen Führerschein bekommen hat: Der Bruder meiner Freundin arbeitete bei der Führerscheinstelle, mein Mann verabredete sich mit ihm, er stempelte ihm alle wichtigen Dokumente ab, überredete seinen Mitarbeiter, dass mein Mann keine Übersetzung von seinem deutschen Führerschein benötigt und verabschiedete ihn nach zwei Stunden und einigen Tassen Kaffee wieder freundlich. Ganz schön leicht – wenn man Beziehungen hat!
„Oh Mist, gleich kommen die Gäste und wir haben gar keine Getränke mehr“, rufe ich meinem Mann zu. Gar kein Problem, denn an jeder kleinen Ecke, mindestens im Radius von einem zweiminütigen Fußmarsch, gibt es einen Dukan, einen kleinen Supermarkt, in dem man alle wichtigen Zutaten, Snacks und Getränke findet. Diese Dukans sind wirklich praktisch, so ganz angepasst an die Spontanität und Flexibilität der Araber. Ich beobachte, wie meine Freundin kocht: Erst während des Kochens fällt ihr auf, welche Zutaten ihr noch fehlen und immer wieder schickt sie ihre Kinder mit ein paar Denar in der Hand los, um die benötigten Zutaten zu kaufen.
Zurück in Deutschland bin ich überfordert: Hier auf dem Dorf ohne Aldi, Lidl und Netto muss ich planen. Doch einmal in der Woche einkaufen gehen und wissen, was ich wann für welches Essen brauche? Was ist, wenn unangekündigt Besuch kommt? „Entspann dich“, sage ich zu mir selbst. „Du bist in Deutschland!“
Nudeln? Wie soll ich davon satt werden?
„Kommt doch morgen nach dem Sprachunterricht mit zu uns zum Essen nach Hause!“, lade ich spontan unseren Arabischlehrer mit seiner Familie ein. Am Abend zuvor bereite ich schnell noch eine Lasagne vor, vor dem Essen mache ich noch einen Salat. In meinen Augen ist das ein relativ gutes Essen dafür, dass man keine richtige Zeit zum Kochen hat. Doch das empfanden meine Gäste nicht so. „Nudeln? Wie soll ich davon satt werden?“, fragt mich mein Sprachschullehrer. Mir wird heiß und kalt. „Wie peinlich“, denke ich mir. Seit diesem Vorfall mache ich alles anders, wenn Gäste kommen. Ich blockiere mir die paar Stunden, bevor der Besuch kommt und zaubere ein Essen mit mindestens zwei Hauptgerichten, einer Suppe und Salat. In meiner Zeit in der arabischen Welt durfte ich lernen: Das, was ich meinem Gegenüber auftische, zeigt ihm, wie gern – oder eben nicht, ich ihn habe. Und ich muss ehrlich gesagt zugeben: Meine Liebessprache ist das Essen geworden. Wieder zurück in Deutschland muss ich aufpassen, dass ich mich nicht ungeliebt fühle, bekomme ich als Gast „nur“ Nudeln aufgetischt.
Freitagmorgen, die Straßen sind wie leer gefegt. Normalerweise hört man überall Kindergeschrei, Hupen und Geschirr klirren, doch freitags ist alles anders. Es wird geschlafen. Freitags ist in der arabischen Welt der freie Tag, an dem jeder Zeit mit seiner Familie verbringt. Man steht gemütlich auf, frühstückt zusammen, die Männer gehen in die Moschee und dann wird zu Mittag gegessen. Alle sitzen den ganzen Tag über gemütlich zusammen, die neusten Informationen werden ausgetauscht, der Onkel, Cousins oder nahestehende Freunde schneien ab und zu rein.
“Wie? Ihr lebt hier so ganz allein, ohne Familie?”
Während ich mit der Familie einer guten Freundin von mir an einem Freitagmorgen bei Tee und einem typisch arabischen Frühstück zusammensitze, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Kein Wunder, dass die Geflüchteten in Deutschland ihre Familie so sehr vermissen. Stehen wir doch nach einem ausgiebigen Frühstück an einem Samstagmorgen vom Tisch auf und jeder geht seinen Weg: Die Hausaufgaben, der Garten, Vorbereitungen für die nächste Woche – alles ruft. Doch es ist nicht nur die gemeinsame Zeit mit der Familie, die in der arabischen Welt so wichtig ist. Nein, es gibt dir eine Identität – und somit Sicherheit, Schutz und Anerkennung in der Gesellschaft. Immer wieder hören mein Mann und ich: „Wie? Ihr lebt hier so ganz allein, ohne Familie? Das geht doch nicht! Wir sind jetzt eure Familie!“
Nicht besser, nicht schlechter – einfach anders. Nur so kann ich meine letzten zwei Jahre in der arabischen Welt beschreiben. Manchmal genieße ich es eben in Deutschland zu leben, wo ich auf die Pünktlichkeit meiner Freunde zählen kann und ein anderes Mal sehne ich mich nach der Flexibilität und Spontanität der arabischen Welt. Und ich – wo gehöre ich jetzt hin? Wie bediene ich meine Gäste in Deutschland? Wie gehe ich einkaufen? Wie kümmere ich mich um meine Familie? Man kann es sich einfach oder auch kompliziert machen. Aber da jede der beiden Kulturen ihre Vor- und Nachteile hat, versuche ich mir in jeder Situation individuell zu überlegen, mit welcher Perspektive ich meine Situation bewältigen möchte.
Annika Wappelhorst
Hallo Kathrin,
dein Text ist zwar inzwischen schon ein bisschen älter, aber ich war neugierig, als ich darauf gestoßen bin. Sehr unterhaltsam und spannend, deine Erfahrungen in der arabischen Welt! (…Auch wenn ich gern wüsste, in welchem Land du genau bist/warst, aber das schreibst du vielleicht bewusst nicht?)
Sehr interessieren würde mich auch, wie du Arabisch gelernt hast und wie dein Gefühl in der ersten Zeit im Ausland war bzw. wie es heute ist. Ich selbst habe ein Semester lang einen Arabisch-Sprachkurs an der Uni belegt und war sehr fasziniert, fand die Sprache aber auch unglaublich schwer. Ich bin gespannt, ob dazu noch ein Text bei dir in Planung ist!
Viele Grüße
Annika
Kathrin von Wolkenstein
Hallo Annika,
Danke für deine Nachricht.
Ja, ich schreibe absichtlich nicht in welchem Land ich bin 😉 Gute Idee mit dem Text über das Sprachelernen- bzw. auch Kulturschock. Werde ich dran arbeiten und du liest dann hoffentlich bald mehr davon…
Cool dass du auch arabisch gelernt hast! Für mich ist es immer so dass wenn ich die sprache nicht nutze, dann kann ich sie auch nicht richtig lernen – von daher versuch es anzuwenden – dann ist es umso leichter 🙂 (aber du hast wahrscheinlich hocharabisch gelernt, oder?)
Ganz liebe Grüße
Kathrin
Annika Wappelhorst
Hallo Kathrin,
ja, ich habe Hocharabisch gelernt und konnte es tatsächlich nirgendwo anwenden, daher habe ich leider alles sehr schnell vergessen. Ich glaube, dass ich es auch erst einmal nicht wieder lernen werde, weil ich bisher keine direkte Anwendung oder Motivation habe 🙂 Aber jede Sprache hat ihre Zeit, also vielleicht in der Zukunft!
Dann bin ich gespannt auf deine Erfahrungen!
Annika