Das einzig Gewisse verbirgt sich in der Existenz der Ungewissheit. Nur wenn wir akzeptieren, dass alles Wandel, Prozess und Dynamik ist; nur wenn wir verstehen, dass nichts vorgegeben, sondern alles veränderbar ist; nur wenn wir den Mut aufbringen, uns den Veränderungen zu stellen, anstatt mit aller Vehemenz an unserem Besitz festzuhalten, haben wir die Chance, die Fesseln der uns lähmenden Ohnmacht zu sprengen und unser Dasein zu gestalten. Ein Appell für Veränderung.
Ist das wirklich noch dieselbe Welt? Es scheint alles auf den Kopf gestellt. Schwankend taumle ich, erfüllt von Erinnerungen an das einst so Vertraute, durch die Fremde, um dabei zuzuschauen, wie auch die letzten bekannten und lieb gewonnenen Anblicke verschwinden. Es fühlt sich an, als hätte ein gewaltiger Sturm die Welt ergriffen. Ein Sturm, der alles mit sich reißt, was wir für so stabil hielten. Fast scheint es, als würde die Geschichte der Titanic ihr großes Comeback feiern: Unsinkbar war sie nicht. Und unsinkbar scheint auch die Welt, wie wir sie zu kennen glaubten, nicht zu sein.
Rückkehr der totgeglaubten Metaphysik?
Jahrtausende ist es her, da schrieb der Grieche Empedokles von der Entstehung der Welt als stetiges Wechselspiel zwischen Liebe und Streit. Als ein fortwährender Kampf um die Regentschaft, in dem mal die Liebe vom Streit und mal der Streit von der Liebe abgelöst wird. Nur in den Phasen, in denen Liebe und Streit gleichgewichtet existierten, konnte für Empedokles auch die Welt existieren. Heute scheint das Gleichgewicht aufs Neue zu bröckeln und es ist der Streit, der auf seinem Vormarsch langsam, aber stetig unsere sicher geglaubte Balance ins Wanken bringt. Den von ihm tosend heraufbeschworenen Böen standen wir zu lange tatenlos gegenüber. Wir sahen einfach zu, wie sie hier und dort ihre Spuren hinterließen; doch noch klein genug, dass wir sie ignorieren konnten.
Nun aber hat uns das Auge des Tornados umzingelt und es wird klar, dass unsere Fundamente ihm nicht Stand halten können. Sollten wir die Chance bekommen, in einer Welt nach dem Sturm aufzuwachen, dann nur, wenn wir uns verändern. Zu lange haben wir versucht, die Welt nach unseren Wünschen zu formen und ihr dadurch jede Kraft genommen. Nun ist die Erosion nicht mehr abzuwenden. Der moderne Mensch: Wie selbstverständlich bildete er sich ein, er sei die Krone der Schöpfung und verwalte mit seiner einzigartigen Fähigkeit zur Vernunft die Geschicke des Universums. Das Leben, die Natur, der Kosmos, das Sein, das Nichts…Begriffe, hinter denen sich einst die tiefsten Geheimnisse unserer Existenz verbargen.
Was sind sie heute noch, außer veraltete metaphysische Phantasmen, erfunden von den Damaligen, die noch nicht in das hoch technologisierte Licht der heutigen Erkenntnis geblickt haben? So der dominierende Glaube unseres 21. Jahrhunderts. Doch langsam regt sich eine böse Vorahnung: haben wir uns aufs Schlimmste geirrt? Mit Schweigen und Ignoranz hoffen wir, diese Ahnung noch verdrängen zu können, wollen mit aller Kraft unser so fein konstruiertes Gedankenschloss erhalten und verteidigen. Doch unsere Macht hat ihre Grenzen. Die totgeglaubte metaphysische Kraft macht sich wieder auf, uns ihre Geltung zu beweisen. Sie ist bereit, um in den Kampf zu ziehen und unsere selbstzerstörerische Egozentrik und Selbstgewissheit zu erschüttern.
Die Macht des Streits
Die Welt, die mir heute so fremd gegenübersteht, ist nicht mehr die Welt, die Raum für einst geliebte Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten lässt. Jeden Tag aufs Neue spüre ich, das Schwarz und Weiß, Gut und Schlecht, Freiheit und Zwang, Recht und Pflicht keine festdefinierten Größen sind. Dass jede Zeit, jede Veränderung, jeder Wandel auch eine Neujustierung unserer Beschreibungen, Überzeugungen und Wahrheiten erfordert.
Heute sind sie nichts mehr als leere Konstruktionen, deren Inhalte in den Fluten, Feuersbrünsten, Stürmen, Raketen und Gewehrsalven unserer Zeit zerstört werden. Trunken vor Selbstgewissheit, stehen wir nun doch wieder chancenlos vor der Macht des Streits. Und er lacht sich ins Fäustchen, wohlwissend das seine Zeit naht, und kein Wissen der Welt unsere Illusionen über menschliche Macht und Kontrolle wird aufrechterhalten können.
Sind wir bereit für den Kampf?
Und nun? Den Streit als notwendigen Ablöser der Liebe akzeptieren? In einen aussichtslosen Kampf ziehen, der genauso selbstmörderisch wäre, wie die Kapitulation? Nein! Noch haben wir eine Chance! Eine einzige, kleine, wenn auch unpopuläre Chance: Veränderung. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass der Streit an die Tür klopft. Zahlreiche Generationen vor uns waren in ihrer Zeit ebenfalls vor große Herausforderungen und Bedrohungen gestellt. Auch sie haben es geschafft, haben sich mit dem Streit versöhnt und das Gleichgewicht wiederhergestellt.
So raffiniert und erkenntnisreich, so poetisch Empedokles´ Sicht auf die Welt auch sein mag, und so oft wie die sie sich zu bewahrheiten drohte: Anpassung, Veränderung, und Einsicht haben uns bisher noch stets vor der vollständigen Zerstörung bewahrt. Jeder unserer Schritte, jede neue Fähigkeit, jede neue Erfindung, die sich im Laufe der Jahrtausende ihren Weg brachen, standen auf den Schultern ihrer Vorgänger, waren ein Beweis dafür, dass wir aus der Geschichte lernen können, dass wir verändern und Ungleichgewichte wieder ausbalancieren können. Niemals haben wir dabei von vorn angefangen. Niemals im Laufe dieses Millionenjahre währenden Prozesses standen wir wieder vor dem Nichts, sondern haben stets den Zwischenraum aus Liebe und Streit erhalten und neu gestaltet.
Gestaltung als dynamischer Prozess
Aber Gestaltung bedeutet Dynamik, Wandel, Kreativität, Offenheit, Risiko, Mut – und auch Fehlschlag. Vielmehr als in der Gewissheit und Selbstverständlichkeit entscheidet unser Leben sich inmitten eines dynamisches Gemisches aus Hell und Dunkel, Gut und Böse, Zukunft und Vergangenheit. Leben im Dazwischen, das ist Leben in der Empedokleschen Ausgeglichenheit. Doch anders als er annahm, wissen wir heute, dass wir dem Streit und seiner Zerstörungskraft nicht ausgeliefert sind. Dass wir es in der Hand haben, die Gegensätze zu vereinen, indem wir lernen, zu reflektieren und unseren Gewissheiten eine Absage zu erteilen.
Indem wir die Dynamik der Welt anerkennen, und damit die Wandelbarkeit unseres Lebens, können wir auf dem schmalen Draht unsers Daseins balancieren. Der Zwischenraum ist ein Raum inmitten von gegensätzlichen Meinungen, Ideen, Zielen, Vorstellungen und Wünschen. Um ihn zu kreieren, müssen wir anfangen, miteinander zu reden, zu diskutieren, zu streiten, zu vertrauen, zuzumuten und vor allen Dingen: wieder anfangen, ernsthaft nachzudenken!
Nachzudenken über uns als Menschen, über unsere Taten, über ihre Folgen, über unser Leben: Was heißt es heute eigentlich: das Leben? Welche Rechte und Pflichten, Möglichkeiten und Nötigkeiten, Freiheiten und Begrenztheiten erwachsen aus unserem Leben als Menschen im 21. Jahrhundert? Welche Chancen und Grenzen ergeben sich aus unseren hoch technologisierten Fähigkeiten? Welche Verantwortung erwächst aus ihnen? Wie wollen wir sie einsetzen, leben und wie können wir es schaffen, zu verändern und zu gestalten?
Nachdenken…
…das ist das heilsame Mittel in Zeiten, in denen die Auswege versperrt scheinen, die Zukunft düster und die Selbstwirksamkeit zur Ohnmacht verdammt ist. Nachdenken ist die Wurzel, aus der Kreativität, Hoffnung und Chance sprießen. Weiter so ist keine Option. Wir brauchen Wandel und Veränderung. Nicht nur in der Theorie, nicht nur als guten Vorsatz oder dann, wenn der Alltagsstress es zwischendurch einmal erlaubt. Auch wenn wir es nicht beabsichtigt haben, wenn es uns überrollt hat, wenn es uns vorher einfach noch nicht möglich war, zu sehen, was hier vor sich geht, jetzt können wir es!
Und wir tun es jeden Tag. Wir können vielleicht nichts für den Lauf der Geschichte unserer Vergangenheit, für die Entwicklungen, falschen Entscheidungen, naiven und kurzsichtigen Handlungen, die vor uns geschehen sind. Doch wir können etwas für den Lauf der Geschichte, die unsere Zukunft wird. Ob wir es wollen oder nicht, allein die Tatsache, dass wir jetzt gerade zu dieser Zeit auf dieser Erde leben, versetzt uns in die unmittelbare Verantwortung für das, was kommt. Wir haben die Pflicht, die Dinge, wie sie sind, zu sehen, die Augen zu öffnen und die Scheuklappen abzunehmen.
Wenn die neuesten Technologien uns auch weiß machen wollten, dass wir es sind, die Dinge in der Hand haben, dass wir uns selbst bestimmen und uns fernab von jeglichen Pflichten selbst verwirklichen können, wenn der Blick auf die Vergangenheit uns auch nichts Anderes als den unaufhaltsamen Fortschritt bescheinigen mag, so müssen wir uns doch heute fragen, ob die Wahrheit hier nicht auch zwei Gesichter hat.
Die zwei Gesichter der Wahrheit
Wie eine Wand, die immer wieder aufs Neue mit der trendigsten Tapete bekleistert wird und eines Tages unter dem Druck der alten Schichten aufplatzt, scheinen auch wir, als Gesellschaft, kurz vor dem Platzen zu stehen. Überschüttet mit neuer Technologie, neuen Perspektiven, neuem Wissen, neuen Weltbezügen und Möglichkeiten löst sich der Klebstoff, der uns zusammenhielt und bröckelt ab. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten hat unser Leben einen fundamental neuen Anstrich bekommen. Im Akkord wurde gestrichen und tapeziert, was das Zeug hält. Kaum war der neuste Trend an der Wand, kündigte sich ein neues Must-have-pattern an. In wenigen Jahrzehnten hat sich der Kreis unserer Einflusssphäre ins Unendliche gesteigert. Heute können wir knapp acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten folgen, liken, anstupsen und ihr Leben kommentieren. Ein „kleiner“ wird es nicht mehr geben.
Welche Vor- und Nachteile sich aus diesen Entwicklungen ergeben haben und werden, ist ein Thema für sich. Aber was wir uns unbedingt klar machen müssen, ist, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf uns und unser Zusammenleben haben. Die ersten Risse in unserem Fundament sind längst zu sehen. Viel zu lange haben wir uns im sicheren Windschatten unserer Vorgänger aufgehalten, die die moderne Gesellschaft begründeten. Wir sitzen noch immer in der uns vertrauten Ecke, die die mutigen Kämpfer für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Demokratie einst für uns geschaffen haben. Auch für sie hatte sich einst der Wind gedreht. Auch sie haben die Risse und Dellen in ihrem Fundament gespürt, die die damals neusten Erkenntnisse und Techniken hinterlassen hatten.
Kopernikus, Da Vinci, Kepler, Galilei, Newton, Leibniz… sie alle und noch viele mehr hatten damals – so wie heute – in kürzester Zeit Entwicklungen zu Tage gebracht, deren Auswirkungen im Eifer des Gefechts unbeachtet blieben. Erst als die Risse und Brüche die Fundamente der Gesellschaft ins Wanken brachten, wurde ihnen bewusst, dass die Zeit für eine fundamentale Renovierung drängte. Sie begründeten den Eintritt in die Moderne. Doch auch die Zeit der Moderne sollte irgendwann an ihr Ende kommen, ihre Mauern brüchig werden. Die Geschichte steht erneut vor einem Comeback: Grenzen verschwimmen. Religionen, die Halt geben konnten, verlieren ihre Bedeutung. Verbindende Narrative lösen sich auf. Einst effiziente Weisen der Kooperation und Arbeitsteilung sind heute lähmend und verhindern das, wofür sie einst geschaffen wurden: Weiterentwicklung.
Öffnen wir die Augen!
Wenn wir uns nicht schuldig machen wollen für den Tod von zig Millionen Menschen und anderen Lebewesen, ist „weiter so“ keine Option. Es ist keine Frage mehr der Wahl. Es ist unsere verdammte Pflicht, etwas zu tun. Im Kleinen wie im Großen. Jede kleine Geste ist ein Statement, das verdeutlicht, dass wir erkannt haben, dass das, was gerade vor sich geht, falsch ist! Und so wie jede andere unserer Taten wird auch die kleinste Veränderung in unserem Handeln für die Welt und das Netz, in das wir eingebettet sind, nicht folgenlos bleiben. Je mehr Veränderung wir produzieren, desto weiter wird sie reichen.
Lasst uns zusammen diskutieren, kreativ sein, neue Wege gehen. Entwickeln wir echten Fortschritt, lebendigen Fortschritt, von dem aus Lebendigkeit an sich wieder voranschreiten kann. Lebendigkeit ist kein Ding, das wir, als Menschen, besitzen. Lebendigkeit ist die Kraft, die uns vom Leben geschenkt wurde. Aber eine Kraft kann zur Neige gehen, wenn sie nicht genährt wird. Hören wir auf, von einer neuen Zukunft zu träumen, die wir uns herbeisehen und fangen wir an, sie durch Worte und Ideen zu gestalten und so real werden zu lassen.
Schreibe einen Kommentar