Als Kind wird man zum guten Menschen erzogen. Als Erwachsener wird man dafür belächelt. Ein äußerst beunruhigender Trend zeichnet sich in der heutigen Zeit ab: Weg vom „Gutmenschen“ und hin zum Egoismus.
Ein paar Freunde und ich quetschen uns die überfüllte Bahnhofstreppe hinunter. Durch das Gewusel von Menschen erkenne ich aus den Augenwinkeln eine einzelne gebückte Gestalt, die sich langsam die Stufen nach oben kämpft. Es ist eine ältere Dame, die sich vergeblich mit ihrem viel zu großen Koffer abmüht. Ich beobachte das Geschehen noch eine Sekunde länger und will gerade meine Hilfe anbieten, da schnappt sich einer meiner Freunde schon den Koffer und trägt ihn der Dame nach oben.
Doch anstatt kurz anzuhalten und zu warten, gehen die beiden anderen Herrschaften aus unserer Gruppe weiter und drehen sich nach ein paar Schritten entnervt um. Was dann geschah, ist der Grund dafür warum ich diesen Artikel schreibe: Der Kofferträger musste sich ernsthaft dafür rechtfertigen, warum er jetzt extra angehalten habe, nur um einer Frau den Koffer zu tragen. In der Diskussion, die dann entstand, fiel das von mir so gehasste Wort: „Gutmensch“.
Woher kommt das neue Unwort?
Man hat mir zu verstehen gegeben, als Gutmensch hätte ich noch nicht verstanden, wie die Welt funktioniert. Eine Ellenbogengesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist – das sei angeblich die heutige Realität. Im Jahr 2015 hat es der Begriff sogar zum Unwort des Jahres gebracht. Damals wurden vor allem ehrenamtliche Flüchtlingshelfer als Gutmenschen tituliert, die angeblich an einem Helfersyndrom leiden. Diese Tatsache sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: Wenn man anderen Menschen gegenüber hilfsbereit und tolerant ist, ist man angeblich naiv, dumm oder weltfremd.
Wie es (leider) ist
Ich bin alles andere als bibelfest, aber der Begriff der Nächstenliebe ist ein Konzept, mit dem ich aufgewachsen bin und das anscheinend immer weiter an Relevanz verliert. Behandele andere Menschen so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst. Was ist daran falsch?
Die Realität sieht leider so aus:
- Die jungen Geschäftsmänner, die den Koffer der Dame mühelos tragen könnten, eilen an ihr vorbei. Zeit ist Geld.
- Wenn sich irgendwo ein Unfall ereignet, würde man annehmen, alle stürzen sofort helfend herbei oder greifen nach ihren Handys, um 110 zu rufen. Leider falsch. Vielmehr ist es so, dass man erstmal das Smartphone zieht, um alles zu dokumentieren. So hat man zu Hause bei den Freunden bestimmt eine spannende Geschichte zu erzählen. Das Unfallopfer liegt am Boden und blutet am Kopf. Keiner hilft. Alle filmen.
- Besonders in den vergangenen Monaten haben sich einige Katastrophen in der Welt ereignet, denen weniger mit Mitgefühl und Bestürzung, sondern vielmehr mit unpassendem Humor begegnet wird. Den einen oder anderen Spaß machen ist okay, aber manche dieser Witze haben die Grenzen des guten Geschmacks schon weit überschritten.
Wie es sein sollte
- Ein Mann sieht die Dame aus dem Anfangsbeispiel mit ihrem Koffer und geht vorbei. Der Gedanke dahinter ist oft: Der Nächste wird bestimmt anhalten und ihr helfen, aber ich kann gerade wirklich nicht. Das ist aber der falsche Weg! Für das reine Denken an eine gute Tat gibt es keine Punkte. Der Nächste wird nämlich auch nicht stehenbleiben und sich mit derselben Ausrede davonmachen. Am Ende hatten zehn Personen den Gedanken, zu helfen, aber solange es keiner wirklich macht, wird sich die Dame weiter abquälen.
- Lasst das Smartphone in der Tasche! Das ist keine Serie, in der gerade der Bürgersteig mit Filmblut bespritzt wurde. Es ruft keiner: „Cut!“ und dann steht die Person wieder auf als wäre nichts gewesen. Das ist ein echter Mensch, der Eure Hilfe braucht. Das sieht dann so aus: Alle Augenzeugen stehen im Kreis um das Unfallopfer herum und sehen sich gegenseitig an. Jeder denkt sich über die anderen: „Warum tut keiner von Euch was?“ Leider haben viele Menschen Angst, bei der Ersten Hilfe etwas Falsches zu machen und versuchen es deswegen von vornherein gar nicht erst. Das wiederum ist nach § 323c des Strafgesetzbuches jedoch eine unterlassene Hilfeleistung und kann sogar bestraft werden. Es ist besser irgendwas zu versuchen, als auf ein Wunder zu warten.
- Wenn jemand Witze über ein tragisches Ereignis macht, ist es ähnlich, wie wenn Menschen auf einer Beerdigung spötteln. Es ist ihre Art, mit dem Leid umzugehen und sich davon zu distanzieren. Generell sind schwarzer Humor und Satire als gesellschaftskritische Stilmittel absolut legitim. Trotzdem vergessen viele, die solche Witze machen, einen entscheidenden Punkt: Menschen sind in diesen Augenblicken gestorben. Menschen mit Familien, die sie nie wiedersehen werden. In diesen Momenten werden Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen. Es sind zwar Witwen und Waisen am anderen Ende der Welt, aber das macht es nicht weniger tragisch. Ich finde, wenn ich darüber keine Witze machen will, brauche ich mir kein „Du Gutmensch“ an den Kopf schleudern lassen.
Mein Appell
Und zum Schluss noch eine Bitte: Frischt euer Erste-Hilfe-Wissen auf, wenn es eingerostet ist. Man sagt sich immer, man würde es ohnehin nie brauchen, aber wenn doch, kann es über Leben und Tod entscheiden. Mir ist inzwischen klar geworden, wie lange mein Erste-Hilfe-Kurs inzwischen her ist und suche mir jetzt einen Termin. Das solltet ihr auch tun.
anonym
Danke! Du sprichst das aus, was ich schon lange denke. Ich bin sehr froh über diesen Artikel.
Hans Werner Altenborg
… na ja, mit “Gutmensch” ist ja was anderes gemeint.
Da ist kein Mensch gemeint, der wirklich gutes tut sondern jemand, der sich vor den “Karren” eines anderen spannen lässt, wo nicht klar ist, ob das gut ist, er aber fest der Meinung ist, dass er was gutes tut, weil ihm das vielleicht eingeredet wurde.
Man nennt den “Gutmenschen” im eigentlichen Sinnen daher auch als “Nützlicher Idiot”. Damit sind aber nicht die Menschen gemeint, die wirklich gutes tun.
Uwa Pla
Da haben Sie etwas falsch verstanden. Das was Sie als gute Tat ansehen ist normalerweise der Standard unter zivilisierten Menschen, der sich über Jahrzehnte herausgebildet haben sollte. Leider verflacht diese Eigenschaft so nach und nach wieder. Die Frage stellt sich woran das liegt. Aber schön, dass Sie als noch jünger Mensch sich zumindest Gedanken darüber machen. Leider gibt es immer weniger Zeitgenossen die hilfsbereit sind.
Was als Gutmenschentum bezeichnet wird, würde ja schon erwähnt. “Nützlicher Idiot” trifft es am Besten.
Sven Weber
Guten Tag,
ich bin momentan im Urlaub und habe deswegen erst jetzt antworten können.
Ein kleines Beispiel: Ein Bekannter von mir hat mal von einer Mitklässlerin erzählt, die in der siebten Klasse noch nicht die Uhr lesen konnte.
Ich habe daraufhin gefragt ob er ihr denn bei diesem Problem geholfen und ihr das Uhr-Lesen beigebracht hätte. Er daraufhin: Nein ich habe sie ausgelacht. – und hat dann erwartet, dass ich das genauso witzig finde wie er.
Als ich dann nicht mitgelacht hab, fiel das Wort: Du Gutmensch.
Vielleicht haben dann einfach die Leute, die mir diesen Begriff an den Kopf geschleudert haben, den Begriff falsch verwendet.
Ich wollte einfach nur auf folgenden Trend hinaus: Man fragt sich bei allem: Was habe ich davon? Warum nicht einfach mal so helfen ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Anstatt einem Unfallopfer die Kamera ins Gesicht zu halten, erste Hilfe leisten und den Notarzt rufen?
Oder als ich mal eine ehrenamtliche Stelle angetreten habe, war die erste Frage seitens ein paar meiner Freunde: Wieviel verdient man da?
Als ich gesagt habe: Nichts, es geht nur um die Sache. – hat man gemerkt, wie das Verständnis dafür fehlte. Es war so die Einstellung: Wenn man keinen Profit daraus zieht, was bringt das ganze dann?
Im Duden steht: Ein Gutmensch ist ein Mensch, der sich in einer als unkritisch, übertrieben, nervtötend o. ä. empfundenen Weise im Sinne der Political Correctness verhält, sich für die Political Correctness einsetzt.
Und nach dieser Definition haben ich (bzw. diejenigen aus meinem Bekanntenkreis) den Begriff wohl falsch verwendet.
Ich bitte dies zu entschuldigen.
Timo Gadde
Ich finde es trotzdem eine sehr wichtige Perspektive! Danke, dass Du sie benannt hast! 🙂
Hans-Dieter Brune
Ein Gutmensch predigt gute Werke, ist aber zu faul, sie selber zu tun, und zwingt dann andere (den Steuerzahler), sie zu tun. Er versklavt also andere, um sich einen guten Ruf zu verschaffen. Und um sich dann seinen Geltungstrieb zu befriedigen. Wie das schon 2000 Jahre die Kleriker tun. Weihwasser predigen und selber Messwein saufen.