Neulich habe ich einem Freund die Frage gestellt, welches denn das „katholischste“ Land der Welt sei, also jenes Land mit den meisten katholischen Gläubigen absolut? Zunächst begann ein kleines Rätselraten: USA oder Kanada? Vielleicht sogar Italien oder Spanien? Oder aber Argentinien, das Land, aus dem der Papst kommt? – Leider alles falsch. Die Länder mit den meisten katholischen Gläubigen weltweit lauten: Brasilien und Mexiko. Wer hätte das gedacht?
Mehr als die Hälfte aller Katholiken (ca. 556 Millionen von 1,1 Milliarden) lebt heute in Lateinamerika. Kein Bereich der Erde ist so katholisch wie die spanisch- und portugiesischsprachigen Länder Amerikas. Mittlerweile leben sogar doppelt so viele Katholiken in Lateinamerika wie in Europa. Doch bei der Anzahl der Priester- und Ordensberufungen verhält es sich genau umgekehrt. Obwohl Lateinamerika eine wesentlich größere Fläche als Europa aufweist und hier wesentlich mehr Katholiken leben, tun hier wesentlich weniger Priester als in Europa ihren Dienst. In Deutschland und Europa reden wir stets vollmundig von einem „Priestermangel“, dabei leben und arbeiten hier mehr als 180.000 Priester. In Lateinamerika sind es nur 70.000. Das reicht – bei den riesigen und oft ländlichen Diözesen – vorne und hinten nicht. Konsequenterweise übernehmen Laien die Grundvollzüge des kirchlichen Lebens: Wortgottesdienste, Taufen, Katechesen, Vorbereitung auf Erstkommunion und Firmung, Krankenbesuche, Beerdigungen und pastorale Gespräche.
Wenn man sich in Lateinamerika den Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung anschaut, gerät man ins Staunen. In Brasilien, dem größten katholischen Land der Welt, beträgt dieser 74 Prozent, in Mexiko sogar etwa 81 Prozent. Allein in diesem Land leben über 100 Mio. Katholiken. Doch der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken. 1910 betrug er in Mexiko noch 99 Prozent, 1970 noch 96 Prozent. Es folgte der Abstieg auf 81 Prozent im Jahr 2014. (Quelle: Pew Research Center Washington) Die katholische Kirche in Lateinamerika steht vor großen Problemen. Vor allem haben diese mit protestantischen, charismatischen und freikirchlichen Gemeinschaften zu tun, die ihr Konkurrenz machen.
Viele Katholiken in Lateinamerika spricht eine „trockene“ katholische Sonntagsmesse nicht mehr so sehr an wie ein charismatischer Gottesdienst in einer Pfingstkirche. Menschen erwarten sich ganz konkrete Antworten in ihrer persönlichen Lebenslage. Sie wollen Gott erfahren, berühren, begegnen. Die katholische Kirche in Lateinamerika weiß um diese Probleme und arbeitet daran, die Menschen wieder mehr anzusprechen. Eigentlich sind das genau dieselben Probleme, die wir als Kirche in Deutschland auch haben. Nur: Die Kirche in Lateinamerika kommt auch ohne Kirchensteuer und viele Priester aus. Hier schwingen Laien das Zepter. Wer sich auf die Kirche in Lateinamerika einlässt, kann viel von ihr lernen. Die lateinamerikanische Kirche ist geistlich und religiös so reich, dass wir in Deutschland und Europa viel von ihr lernen können. Ich möchte mich im Folgenden auf zwei Kernaspekte beschränken:
1. Charisma: eine lebendige Beziehung mit Jesus Christus pflegen
Die katholische Kirche in Lateinamerika weiß ganz genau, warum zahlreiche ihrer Mitglieder zu protestantischen oder „charismatischen“ Gemeinschaften überwechseln: weil ihnen in der katholischen Kirche etwas fehlt. Vielerorts ist die Kirche schwach, lau und indifferent geworden. Viele bezeichnen sich zwar als Christen, praktizieren ihren Glauben allerdings nicht mehr. So geben nach einer Studie des Washingtoner Pew Research Centers nur 16 Prozent der Katholiken an, ihren Glauben auch zu praktizieren (regelmäßiges Gebet, Sonntagsmesse). Bei Protestanten beträgt der Anteil der praktizierenden Christen bereits 37 Prozent. Andererseits bezeichnen sich 27 Prozent der mexikanischen Katholiken als charismatisch. Möglicherweise möchten sie eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus aufbauen, werden von ihrer Kirche aber nicht ausreichend gestützt und geleitet. Übrigens merkt man die Diskrepanz zwischen Katholiken und Protestanten auch noch an einer anderen Kennzahl: ihrem sozialen Engagement. Während 48 Prozent der katholischen Christen angeben, sich im vergangenen Jahr (gemeinsam mit ihrer Kirche) für Bedürftige eingesetzt zu haben, beträgt diese Zahl bei Protestanten bereits 73 Prozent.
Worum geht es den Katholiken in Lateinamerika? Was wünschen sie sich von ihrer Kirche? – Ihnen geht es nicht so sehr darum, ob der Zölibat abgeschafft, ob Frauen zu Priestern geweiht oder die katholische Sexualmoral geändert wird. Wichtig ist für sie: eine lebendige und vielleicht auch ein wenig charismatische Beziehung zu Jesus Christus. Manche Detailfragen werden angesichts dessen nebensächlich. So stört sich in Mexiko kaum jemand daran, wenn der mexikanische Priester Humberto Alvarez bei Kindergottesdiensten in Saltillo Messgewänder mit den Comicfiguren Batman, Superman oder Spiderman trägt und die Kinder mit dem Wasser aus einer Wasserpistole segnet. Mexikaner interessiert es nicht, ob der Papst nun rote oder schwarze Schuhe trägt, ob ihr Pfarrer bei der Wandlung das „pro multis“ oder das „pro omnibus“ spricht oder ob ein Priester nun an einem römischen Kragen oder einem anderen Zeichen erkennbar ist. Im Mittelpunkt muss immer die Beziehung zu Jesus Christus stehen, die im Gebet, im Gespräch und in der Gemeinschaft vertieft und gepflegt werden kann.
Zuweilen habe ich das Gefühl, dass wir Deutschen gerade diesen wesentlichen Punkt vergessen haben. Im Pfarrgemeinderat diskutieren wir gerne darüber, welche Würstchen es beim Pfarrfest geben soll und wer nun diesen oder jenen Kuchen vorbereitet. Im Gegenzug vergessen wir zu beten, den Glauben weiterzugeben und für den eigenen Glauben auch einmal im beruflichen Alltag einzustehen. Die Kirchensteuer gibt vielen Katholiken überdies das Gefühl: Ich unterstütze die Kirche schon finanziell. Dann bin ich ja raus aus dem Schneider. Mit dieser Weichspüler- und Kopf-in-den-Sand-Mentalität ist eine Kirche für niemanden interessant.
2. Apostolat: Wovon das Herz voll ist, davon läuft der Mund über
Was machen wir, wenn wir einen guten Film geschaut, ein interessantes Buch gelesen oder ein vorzügliches Restaurant besucht haben? Wir empfehlen es weiter. Letztlich ist das ein kleiner Liebesdienst, den wir anderen erweisen: Das, was uns glücklich gemacht hat, wollen wir nicht für uns selbst behalten. Wir wollen es weiterverschenken, damit auch andere etwas davon haben. Genauso sollte es beim Glauben sein.
In Mexiko teilen immerhin acht Prozent der Katholiken ihren Glauben einmal pro Woche mit anderen Menschen. Bei den protestantischen Christen Mexikos sind dies bereits 31 Prozent – ein Grund, warum die evangelischen und evangelikalen Gemeinschaften so viel Zulauf erhalten. Doch wie sieht es damit bei uns Deutschen aus? Sehr schlecht. Wir stellen unser Licht gerne unter den Scheffel. Vielen ist es peinlich, in einem öffentlichen Restaurant vor dem Essen zu beten. Uns fehlt es an Glaubensmut, Überzeugungskraft und Stärke. Haben wir keine Angst! Lassen wir uns auf die Weite des katholischen Glaubens ein! Teilen wir unsere Überzeugung mit anderen Menschen und reden wir mit Brüdern und Schwestern im Glauben über unsere Zweifel! Wenn heute bereits in Deutschland katholische Bischöfe abends mit Freunden einen Club oder eine Disco aufsuchen, um dort – als Priester erkennbar – mit Menschen über Gott ins Gespräch zu kommen, so sind wir auf einem mutigen Weg in die richtige Richtung.
Von der Kirche in Lateinamerika, besonders der Kirche von Mexiko und Brasilien, können wir viel lernen. Der heilige Papst Johannes Paul II. hatte eine besondere Vorliebe für Mexiko. Er besuchte dieses schöne Land allein fünfmal. Papst Benedikt XVI. unternahm dorthin 2012 eine Apostolische Reise. Und auch Papst Franziskus hat für 2015 einen Besuch in Mexiko in Aussicht gestellt. Lassen wir uns überraschen…
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