Die deutsche Politik befindet sich in einer Imagekrise. Und es ist nicht auszuschließen, dass diese weiter um sich greift und sich auf Dauer sogar zu einer Legitimitätskrise auswächst. Alternative Konzepte, die einen Weg aus der Misere aufzeigen können, gehören also auf den Tisch. Das Stichwort "Bürgergesellschaft" wird hierzulande oft in die Runde gerufen. Hinter diesem Begriff steht ein Gemeinwesen, bestehend aus freien, gleichen und mündigen Bürgern, das durch ein stärkeres Einbinden in politische Prozesse gekennzeichnet ist. Dabei liegt es an den Bürgern, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und somit zum „zoon politikon“ aristotelischen Vorbildes zu werden.
Entscheiden, gestalten und beraten
Die Bürgergesellschaft lässt sich weder auf die Forderung nach direkter Demokratie noch nach mehr Bürgerforen oder ähnlichen Veranstaltungen reduzieren. Sie wird getragen vom Engagement der Bürger, unter anderem in gemeinnützigen Organisationen, und bleibt dabei unabhängig von Politik und Verwaltung. Sie mischen sich ein, um die Politik zukunftsfähiger und bürgernäher zu gestalten. Darunter kann man Engagement auf regionaler Ebene für Umweltverbände, Kirchen, Kindergärten und Schulen oder in Sportvereinen verstehen, aber dabei belassen sollte man es nicht.
Dabei geht die zurzeit praktizierte Bürgerbeteiligung von Seiten der Politik eher nicht in die Richtung des Einbindens der Bürger in Entscheidungsprozesse, sondern verbleibt in einer Einbahnstraße: vor allem wird informiert und beraten. Nach dem Motto „Gut, dass wir darüber geredet haben“ wird oftmals ein Diskurs vorgetäuscht, der auf die konkrete Politik keine Auswirkungen hat. Natürlich ist es besser, wenn man miteinander redet, als übereinander zu schimpfen. Wirklich gewonnen ist dadurch jedoch nichts, denn die Bürgergesellschaft zieht ihre Kraft gerade aus dem Potential zur Veränderung durch das Mitgestalten und Mitbestimmen.
Wieso wird der Bürger nicht eingebunden?
Auch politische Macht ist eine limitierte Ressource. Die Bürgergesellschaft kann nicht realisiert werden, ohne dass die Politik und die Verwaltung Entscheidungskompetenzen einbüßen. Damit ginge man jedoch ein großes Risiko ein. Dabei würde man ja nicht nur an der Stabilität unseres doch relativ gut austarierten Verfassungsstaates sägen, sondern sich auch abhängig von der nach Zeitpunkt und Region wechselhaften Beteiligung der Bürger machen. Dass Bürgerbeteiligung für die Politik auch unangenehm sein kann, zur außenpolitischen Isolierung und innenpolitischen Destabilisierung führen kann, ist relativ leicht mit einem Blick in die Schweiz zu belegen. Dies veranlasst einige Skeptiker dazu, vor einer Überfrachtung der Bürger mit der politischen Verantwortung zu warnen.
Ob die Mitglieder einer Bürgergesellschaft für diese neue Verantwortung bereit sind, ist auch eine berechtigte Frage. Einzelne Bürger sind in ihrem Entscheidungen und Handeln dem Allgemeinwohl nicht direkt verpflichtet. So gibt es beispielsweise zahlreiche sogenannter Bürgerinitiativen gegen Flüchtlingsheime auf regionaler Ebene, die ausschließlich die Interessen einer bestimmten Gruppe vertreten. Engagement ist eben manchmal alles andere als selbstlos und einen Interessenausgleich sehen die bisherigen Beteiligungsmodelle selten vor. Außerdem sind es mehrheitlich die gut situierten Bürger, die es sich zeitmäßig und finanziell erlauben können, in den Diskurs einzugreifen, oder Kampagnen zu sponsern.
Angebote werden nicht wahrgenommen
Außerdem ist es auch nicht unüblich, dass die Beteiligungsmöglichkeiten von den Bürgern gar nicht wahrgenommen werden. Die Fehler hierfür werden allerdings auch vorwiegend in der Verwaltung gesucht: die Verfahren erscheinen Bürgern unübersichtlich und unsicher. Außerdem besteht des Öfteren ein nicht unwesentlicher Wissensvorsprung auf Seiten der Verantwortlichen, mit dem Änderungen zumeist begründet abgewiesen werden. Verständlicherweise wollen die Planer ihr Konzept rechtlich kugelsicher ausgestalten, allerdings hat auch das einen Haken: Das Einbinden der Bürger erfolgt oft in einem zu weit fortgeschrittenen Stadium, in dem kaum noch Handlungsspielräume bestehen.
Praktische Probleme in Zeit und Raum
Aus Sicht der Verwaltung muss man selbstverständlich auch den Faktor Zeit im Auge behalten. An Verfahren, die Jahre dauern und die Kosten ansteigen lassen, sollten auch die Bürger kein Interesse haben. Die Bürgergesellschaft wird es auch nicht jedem recht machen können. Aber grobe Fehler und renitenter Widerstand der lokalen Bevölkerung lassen sich dadurch vermeiden, dass eine Mehrheit der Betroffenen einen Konsens, gemeinsam mit der Verwaltung und auch Augenhöhe mit dieser, erarbeitet und legitimiert.
In einem Land wie Deutschland kann die Diskussion vermutlich nur in kleinerem Kreis mit wünschenswerten Resultaten stattfinden. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die alle 80 Millionen Deutschen gleichermaßen einbezieht, scheint nicht nur illusorisch, sie ist es auch. Den Medien, welche die Mammutaufgabe zugetragen wurde, aufzuklären und differenziert darzustellen, wird allgemein nicht zugetraut, dem breiten Meinungsspektrum Rechnung tragen zu können, vor allem im heutigen Zeitalter der ständigen Skandalisierung.
Bürgerbeteiligung braucht politischen Willen, aber auch Grenzen
Auch eine funktionierende Bürgergesellschaft muss rationale Entscheidungen treffen. Dazu zählt, in jedem Fall sachbezogen zu überlegen, ob eine Involvierung der Bürger angebracht und dem Zweck dienlich ist. Anschließend müssen vor dem Beginn der Beratungen mit den Bürgern realistische Handlungsspielräume gesetzt werden: Es muss klar sein, was verhandelbar ist und was außer Frage steht. Der nötige Mehraufwand zeigt, dass Bürgerbeteiligung gewollt sein muss, auch und vor allem von ganz Oben, sonst ist jeder Versuch von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Die Chance auf eine lebendige Demokratie
Wenn man sich das alles durch den Kopf gehen lässt, wird einem klar: das Verwirklichen einer Bürgergesellschaft würde ganz sicher nicht zu einer politischen Harmonieveranstaltung. Das Spannungsverhältnis zwischen Engagement und Repräsentation birgt jedoch die Chance der Weiterentwicklung des politischen Systems. Denn die Bürgergesellschaft würde keineswegs zu einer Marginalisierung der Parlamente führen, sondern gemeinsam getroffene Entscheidungen auf eine breitere gesellschaftliche Basis stellen. Das Versprechen der Bürgergesellschaft ist die Chance, Misstrauen in Vertrauen und Resignation in Gestaltungswillen zu verwandeln.
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