Wer rechts denkt, muss noch kein Nazi sein. Er ebnet trotzdem den Weg zum salonfähigen Nationalismus. Schon heute ist rechtes Gedankengut salonfähiger als man denkt. Hinter Sammelbewegungen wie AfD, Pegida und Co. steckt ein klares Konzept: eine schleichende Kulturrevolution von rechts.
Nazi. Ein kleines Wort mit so großer Bedeutung. Wer in Deutschland als Nazi gilt, ist bei Antifa, Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen gleichermaßen unbeliebt. Wenn Björn Höcke, Sprecher und Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen, nun bei seinen wöchentlichen Demonstrationen in Erfurt 1.000 Jahre Deutschland glorifiziert, den Verlust der Männlichkeit anklagt und fordert, dass Erfurt „schön deutsch“ bleiben solle, ist man schnell geneigt, den langjährigen Geschichtslehrer als Nazi abzustempeln. Das Problem an der Sache: Björn Höcke ist kein Nazi.
Björn Höcke gehört zur sogenannten Neuen Rechten. Die Neue Rechte geht nicht in Sturmhauben vermummt auf die Straßen und zündet Flüchtlingsunterkünfte an. Stattdessen kommt sie seriös gekleidet und mit Uniabschluss daher. Sie hält geschliffene Reden und befolgt die Gesetze. Die Neue Rechte ist jedoch keine homogene Gruppe. Es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff für Parteien, Verbände, Vereine, Institute, Verlage, Autoren und Privatpersonen, die allesamt ein Ziel eint: die kulturelle Revolution von rechts.
Inhaltlicher Kern der Neuen Rechten ist der sogenannte Ethnopluralismus. Demnach habe jedes Volk das Recht, seine Gesellschaft von fremden Einflüssen freizuhalten. Das Unterscheidungsmerkmal liegt dabei nicht in einer biologistischen Einordnung in Rassen, sondern in der Zugehörigkeit zu einer Kultur. Fremde Einflüsse werden als Gefährdung der eigenen kulturellen Identität wahrgenommen. Kritiker sehen im Ethnopluralismus einen Rassismus ohne Rassen, da wesentliche Merkmale des klassischen Rassismus auch im Ethnopluralismus zu finden seien, dieser jedoch auf historisch vorbelastete Termini wie eben den Rassenbegriff verzichte.
Obwohl Antonio Gramsci ein marxistischer Intellektueller war, ist er einer der Vordenker der Neuen Rechten. Inhaltlich steht er ihr zwar fern, jedoch hat sie seine Ideen zur Erringung kultureller Hegemonie übernommen. Bevor sie nach der personellen und funktionalen Macht greift, versucht die Neue Rechte, Wirklichkeitsbilder in ihrem Sinne zu verändern und die Diskurshoheit zu erlangen. Sie will das kollektive Bewusstsein in der Bevölkerung dahingehend verändern, dass sie mit ihren Forderungen eine möglichst breite Masse erreicht. Diese Taktik bezeichnet man als rechten Gramscismus.
Die rechte Apokalypse
Rechter Gramscismus bedeutet nicht, an jede Straßenecke Plakate mit Forderungen wie „Deutschland den Deutschen“ zu kleben. Es geht darum, zunächst über publizistischen und intellektuellen Einfluss die eigenen Positionen salonfähig zu machen. So gibt es eine Handvoll Autoren, die seit einigen Jahren mit skandalträchtigen Büchern auf sich aufmerksam macht. Von Udo Ulfkotte beispielsweise stammen So lügen Journalisten. Der Kampf um Quoten und Auflagen (2001), SOS Abendland. Die schleichende Islamisierung Europas (2008), Politische Korrektheit. Von Gesinnungspolizisten und Meinungsdiktatoren (2013), Gekaufte Journalisten. Wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken (2014), Mekka Deutschland: Die stille Islamisierung (2015).
Akif Pirincçi schrieb Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer (2014) und Die große Verschwulung – Wenn aus Männer Frauen werden und aus Frauen keine Männer (2015). Thilo Sarrazin geriet mit Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010) und Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (2014) in die Schlagzeilen.
Was all diese Bücher gemeinsam haben: Sie beschreiben eine geradezu apokalyptische Gesellschaft, die wahlweise wegen zu viel Zuwanderung, der angeblichen Meinungsdiktatur oder Gender-Wahnsinn in ihren letzten Tagen steht. Interessant ist, dass es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition der politischen Endzeitliteratur gibt und sich die Neue Rechte auf viele der damaligen Autoren beruft. Laut Volker Weiß („Deutschlands Neue Rechte“, Paderborn 2011) ähnelten sich die Vorgehensweisen und Forderungen der Schriften bis heute. So sei die Forderung nach der Entmündigung der Masse zugunsten eines Machtgewinns der Elite bei vielen Autoren zu finden.
Einer von ihnen ist Edgar Julius Jung. Der Jurist veröffentlichte 1927 sein Buch Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung. Darin „versucht Jung einen systematischen Nachweis, warum die demokratische Gesellschaftsform den Bestand des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes bedrohe“ (Weiß 2011). Dabei war er von der Sorge um das deutsche Erbgut getrieben. In dem Buch versucht er, mit empirischen Daten zu belegen, dass die deutsche Kultur bald untergehe, wenn das Erbgut nicht gepflegt würde. Um seinen Ausführungen einen – zumindest aus der damaligen Perspektive – wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen, geht er auf die Rassenhygiene ein, die seinerzeit die Züchtung höherwertiger Menschen verhieß. Er fordert staatliche, an der Vererbungslehre orientierte Maßnahmen, die die deutsche Rasse beschützten.
Ungeahnte Unterstützung
Weiß stellt bei der Analyse Parallelen zu Sarrazins Deutschland schafft sich ab fest. Darin behauptet Sarrazin unter anderem recht einseitig, dass Begabung vererbbar sei und „geistige Fähigkeiten […] den Mendelschen Gesetzen unterliegen“. Laut Weiß sähen beide Autoren in den äußeren Einflüssen nachrangige Faktoren in der Entwicklung von Fähigkeiten. Deswegen klage Sarrazin auch über die Kinderlosigkeit von Akademikern. Zudem bemerkt Weiß, dass beide Autoren bemüht sind, ihre Thesen ausführlich mit empirischen Daten zu verknüpfen.
In der Causa Sarrazin haben übrigens einige Medienhäuser, die man prinzipiell nicht rechts verortet, der Neuen Rechten in die Karten gespielt. Dabei handelt es sich zum einen um die Bild-Zeitung. Sarrazin gab im Oktober 2009 dem Spartenmagazin Lettre International ein Interview, in dem er eigentlich über die Wirtschaft Berlins sprach. Dabei polarisierte er mit Behauptungen, dass muslimische Minderheiten in Berlin unproduktiv seien, die Gesetzte missachteten und die Entwicklung der Stadt nicht voranbrächten. In dem Magazin kamen noch über 40 weitere Persönlichkeiten zu Wort. Trotzdem entschloss sich die Bild-Zeitung, Auszüge des Interviews abzudrucken, Sarrazins Aussagen nachweislich aus dem Kontext zu reißen und im Übrigen gegen das Urheberrecht zu verstoßen. Die Lettre International hatte nämlich keine Erlaubnis erteilt, das Interview, das in ihrem Heft erschienen ist, in der Bild abzudrucken. Die Zeitung aus dem Hause Axel Springer machte das SPD-Mitglied über Nacht zu einem Aushängeschild der Neuen Rechten.
Götz Kubitschek kennen wohl nur die wenigsten. Trotzdem gilt er als einer der wichtigsten Drahtzieher in der neurechten Szene. „Sarrazin haben wir höllisch gut verkauft und dazu auch ein Sonderheft gemacht: Sarrazin lesen. Also ohne Frage ein absoluter Durchbruch gewesen. Das Buch von ihm, das uns auch viele Themen, die wir ansprechen, nach oben gezogen hat“, meint Kubitschek gegenüber 3sat in der Dokumentation Auf dem Rittergut. Der gebürtige Ravensburger ist Verleger, Publizist und Aktivist der Neuen Rechten. Er hat das Institut für Staatspolitik gegründet, das als Denkfabrik für die Szene gilt. Dazu ist er Chefredakteur des Magazins Sezession, das vom Institut für Staatspolitik herausgegeben wird. Damit verantwortet er maßgebliche Teile der rechtsintellektuellen Szene. „Ich halte das Rechtsintellektuelle für das Kommende. Das ist ganz klar, dass die Probleme, die auf unser Land zukommen, in denen wir stecken, die Antworten nicht von links und von rechts bekommen“, so Kubitschek.
In den Jahren von 2007 bis 2009 erregte Kubitschek mit der Konservativ-Subversiven Aktion Aufmerksamkeit. Öffentlich wirksam störte er mit seinen Mitstreitern immer wieder Veranstaltungen seiner politischen Gegner. Auf einem Kongress der dielinks.sds (bundesweiter Zusammenschluss linker Studenten) entrollten sie ein Banner mit Lenins Kopf und dem Schriftzug 10 Millionen Tote. Bei einer Diskussionsveranstaltung mit Armin Laschet (CDU) und Daniel Cohn-Bendit (Grüne) fragte Kubitschek, wo Sarrazin sei, während rund 25 weitere Aktivisten die Bühne besetzten und ein Banner mit dem Satz Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch präsentierten, der Cohn-Bendit zugeschrieben wird.
In letzter Zeit tat sich Kubitschek als Redner bei Pegida und dem Leipziger radikaleren Ableger Legida hervor. Er interpretiert seine Rolle so, dass er zwischen den Ablegern vermittle. Zudem forderte er zu zivilem Ungehorsam auf. Auch pflegt er Kontakte zu europäischen rechtspopulistischen Parteien, wie der italienischen Lega Nord, die er im März 2015 besuchte. Der Journalist und Experte für Rechtsextremismus, Andreas Speit, sieht in Kubitschek einen Vordenker der Pegida-Bewegung.
Im September 2010 erschien schließlich Deutschland schafft sich ab. Die Idee, das Buch zu schreiben, kam allerdings nicht von Sarrazin. Selbst gibt er zu, dass er durch die Deutsche Verlagsanstalt angeregt worden sei. „Diese wiederum gehört zu Random House, der Dachgesellschaft des Bertelsmann-Konzerns.“ (Weiß 2011) Zudem erschienen Vorabdrucke in der Bild und dem Spiegel. Die mediale Dauerbeschallung seinerzeit organisierten also nicht typische Vertreter der Neuen Rechten, sondern seriöse und im Mainstream befindliche Verlagshäuser.
Meinungsdiktatur und Lügenpresse
Der Demokratie haben sie damit einen Bärendienst erwiesen. Denn die Neue Rechte belässt es nicht bei publizistischen Tätigkeiten. Um neue Wirklichkeitsbilder zu konstruieren, wie es der rechte Gramscismus vorsieht, ist dies nur der erste Schritt. Der Tabubruch ist eines der meistgenutzten Mittel der Neuen Rechten. Ulfkottes Buchtitel stehen schon sinnbildlich dafür. Sie weiß natürlich, dass Personen, Parteien und Medien, die links der Mitte stehen, ihre Aussagen angreifen. Dann geht sie nicht etwa in den inhaltlichen Diskurs (auch wenn sie das bei Gelegenheit behauptet), sondern stellt die Behauptung einer Meinungsdiktatur auf und stilisiert sich als Opfer des linken Mainstreams.
Das kann man polemisch formulieren wie Michael Paulwitz von der Jungen Freiheit, dem größten Presseorgan der Neuen Rechten, in seinem Kommentar Meinungsdiktatur ohne Diktator vom 09. September 2015: „Zuwanderungskritische Parteien tauchen mit ihren Positionen in der Woge gefühlsschwangerer Beiträge wie auf Verabredung praktisch nicht mehr auf, selbst maßvolle Warner finden sich in den Dauerschwatzsendungen der zwangsgebührenfinanzierten, von Parteien und Lobbyvertretern fest im Griff gehaltenen Staatssender allenfalls in Allein-gegen-alle-Konstellationen, in denen ein halbes Dutzend Hypermoralisten sich gemeinsam mit dem Moderator an ihnen abarbeitet.“
Oder man kann eine diplomatische Sprache wählen wie Björn Höcke auf einer Erfurter Demonstration, als er über den Begriff der Lügenpresse – den er in der Tat nicht verwendet – spricht: „Ich habe wirklich Verständnis für Begriffsbildungen, auch für diese Begriffsbildung, weil die Einseitigkeit in der Medienberichterstattung dieses Landes – und man muss sich doch nur mal die Nachberichterstattung zu der letzten Jauch-Sendung ansehen: Die schreit doch auch wirklich zum Himmel, es ist doch wirklich zum Mäuse melken und zum Haare ausraufen.“
Auch wenn die beiden Kommentare vollkommen unterschiedlich formuliert sind, kreisen sie doch um denselben Vorwurf: Die Berichterstattung in Deutschland sei nicht unabhängig und neutral. Sie beziehe einseitig Stellung für linke Positionen und Parteien und diskreditiere „zuwanderungskritische Parteien“, also wohl die AfD. Der Vorwurf der Meinungsdiktatur und Lügenpresse ist in neurechten Kreisen weit verbreitet, unabhängig davon, wie einzelne Personen ihn nun konkret formulieren.
Die Neue Rechte greift nach der Mitte
Auch Ulfkotte und Sarrazin nähren in ihren Büchern ja diesen Vorwurf. Aber es existiert nun einmal ein Unterschied, ob Autoren aus der einschlägig rechten Szene diese Bücher schreiben, oder intellektuell auftretende Personen mit einem bürgerlichen Hintergrund. Ulfkotte arbeitete für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ein bürgerlich-konservatives Medium. Pirincçi schrieb über viele Jahre erfolgreich fiktive Bücher, mit der Felidae-Reihe veröffentlichte er Detektivromane, in denen eine Katze in die Hauptrolle schlüpft. Thilo Sarrazin ist langjähriges SPD-Mitglied und war Finanzsenator in Berlin sowie Bundesbanker.
Und das ist kein Zufall. Die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass rechte Parteien und Positionen nicht mehrheitsfähig werden, wenn ihre Köpfe nur unter sich bleiben. Deswegen konnten sich klassisch rechte Parteien wie die NPD noch nie eine über einzelne Landtage hinaus langfristig profilieren. Dieses Problem hat die Neue Rechte erkannt. Wo werden Wahlen gewonnen? Richtig, in der Mitte. Deshalb greift die Neue Rechte genau dorthin.
Und sie greift nicht ins Leere. Es gibt in Deutschland eine konservativ-bürgerliche Mitte, die früher mehrheitlich CDU wählte. Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende ihre Partei jedoch weiter links positioniert. Heute steht die Partei für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – ein Thema, bei dem es im Kern darum geht, Frauen aus dem Privathaushalt ins Erwerbsleben zu holen. Sie führte mit der SPD – wenn auch als Kompromiss – die doppelte Staatsbürgerschaft und einen Mindestlohn ein, schaffte die Wehrpflicht ab und beschloss den Ausstieg aus der Kernenergie. Nun setzt sie sich für Europa mit offenen Binnengrenzen gemäß „Schengen“ und für eine humanitär-liberale Haltung in der Flüchtlingskrise ein. Ihre Positionierung, mit der sie die zeitgenössische Mehrheit bis in die linke Mitte hinein erreicht, war neben der personellen Schwäche der SPD der Hauptgrund für ihr fulminantes Wahlergebnis 2013. Doch Angela Merkel beging einen entscheidenden Fehler.
Sie unterschätzte die Wut und die Wucht, die von der Minderheit ausgeht, die sie verprellte. „Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“, war Franz-Joseph Strauß 1983 überzeugt. Vielleicht war ihr Kalkül, dass der stets zu Stammtischparolen neigende Horst Seehofer jene Schichten anspricht, die sie aufgegeben hat. Besonders in der Flüchtlingskrise wird jedoch deutlich, dass die Union damit ihre Glaubwürdigkeit riskiert. Seehofer stellt Ultimaten, Merkel lässt sie verstreichen und nichts passiert. Wie eine Union wirken die Schwesterparteien schon lange nicht mehr.
Bei Pegida demonstriert die Mitte
Und so kommt es, dass sich Teile der bürgerlichen Mitte nun politisch heimatlos fühlen. Wissenschaftler der TU Dresden haben bei einer Untersuchung der sozialen Zusammensetzung von Pegida herausgefunden, dass der typische Demonstrant Mitte 40 und männlich ist, einen Realschulabschluss hat, als Arbeiter oder Angestellter 1.500 Euro Netto verdient und damit leicht über dem regionalen Durchschnitt liegt. Die Mehrheit, die montags in Dresden marschiert, ist also keine materiell benachteiligte Gesellschaftsschicht oder eine offen rechte Randgruppe.
Der durchschnittliche Pegida-Anhänger gibt als Grund für seine Teilnahme an den Demonstrationen an erster Stelle nicht die Furcht vor einer Islamisierung an, sondern allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik. Das Vakuum, das rechts der Mitte entstanden ist, wissen Höcke und seine Brüder im Geiste geschickt für sich zu nutzen, indem sie mit einem strikten Anti-Kurs die von der CDU entfremdeten Schichten ansprechen. Nicht umsonst versucht sich die AfD mit dem Begriff der „Altparteien“ semantisch von ihren politischen Konkurrenten abzusetzen.
Aber der Griff in die Mitte funktioniert nicht nur über Migrationsthemen, obgleich dieser Eindruck angesichts der exponierten Stellung der Flüchtlingskrise in der Berichterstattung entstehen könnte. Zwar eröffnet diese Krise der Neuen Rechten ein enormes Mobilisierungspotenzial, doch versucht sie auch bei weiteren klassischen Themenfeldern Fuß im bürgerlichen Lager zu fassen, beispielsweise mit Gender und Homosexualität. Dabei schafft sie es, die Grenzen zwischen dem rechten Lager und dem Konservatismus verschwimmen zu lassen.
Frauke Petry sprach bei Anne Will am 10.06.2015 beispielsweise der Diskussion um die Homoehe mal eben die Existenzberechtigung ab: „Ich glaube, die Zahlen aus 2013 sind bei irgendwie 35.000 eingetragenen Lebenspartnerschaften und an die 70.000 gleichgeschlechtlichen, aber nicht eingetragenen Partnerschaften. Die sind für mich als Zahl wichtig, aber im Vergleich zu zirka 18 Millionen Ehen stellen sie bei weitem nicht die Mehrheit und ich frage mich, ob das tatsächlich ein derartig relevantes Problem in unserer Gesellschaft ist.“
Die Neue Rechte wirft Köder aus
Die Neue Rechte – in diesem Fall in Gestalt der AfD – nähert sich der konservativen Mitte also dadurch an, dass sie Themen besetzt, die die Mitte bewegen, in den Wahlprogrammen der etablierten Parteien jedoch fast nicht mehr vorkommen, wie eben eine strikt ablehnende Haltung gegenüber der Homoehe. So stellt sie einen Fuß in die Tür. Doch manchmal kommt die Mitte auch von ganz alleine.
Dies geschieht zum Beispiel, wenn die Neue Rechte den Schulterschluss mit Christen sucht. Die Theologin Angelika Strube analysiert die Taktik neurechter Medien wie der Jungen Freiheit auf der Internetseite der Interkulturellen Woche: „Obwohl diese Medien sich nicht als christlich, kirchlich oder religiös verstehen und obwohl sie eine teilweise aggressiv antichristliche Leserschaft haben, greifen sie immer wieder aktuelle kirchliche, besonders gerne konservativ-christliche oder traditionalistische Themen auf. Die Leserwerbung gelingt am einfachsten im Internet: Wenn dort jemand nach Artikeln zu aktuellen kirchlichen Themen sucht und ein entsprechendes Stichwort in eine Suchmaschine eingibt, dann erhält er eine lange Liste von passenden Artikeln. Indem neurechte Internetmagazine auch Artikel zu aktuellen kirchlichen Themen veröffentlichen, kommen Internetnutzerinnen und -nutzer über Suchmaschinen auf diese Seiten. Wenn die kirchlichen Artikel sie ansprechen, werden sie auch andere Artikel lesen und die Seiten regelmäßiger besuchen.“ Manche konservativ-katholische Internetportale verlinken sogar zu Artikeln neurechter Medien oder zitieren aus deren Beiträgen.
Dahinter steckt im Prinzip die gleiche Taktik, die auch bei Petry zu finden ist: Die Neue Rechte wirft Köder aus, an die sich Konservative aus der Mitte hängen, weil sie sich in ihnen vertreten fühlen. Im Laufe der Zeit überträgt die Neue Rechte immer mehr rechtes Gedankengut in die Mitte, mit dem Ziel, dass diese Positionen auch als solche der Mitte wahrgenommen werden. So verschwimmt die Grenze zwischen Rechten und Konservativen zusehends. Der rechte Gramscismus sieht ja vor, das kollektive Bewusstsein zu verändern.
Bezeichnet Höcke nicht als Nazi
Die Frage, die sich stellt, lautet: Wird das funktionieren? Schafft es die Neue Rechte wirklich, das Bewusstsein einer breiten Masse zu verändern? Schafft sie es, die Diskurshoheit zu erlangen? In einigen Teilen und Kreisen hat sie es schon. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ – mittlerweile ein geflügeltes Wort und zugleich Ausdruck eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber den bestehenden Verhältnissen in Politik und Presse.
Natürlich kann jeder den Anzugträger Björn Höcke als Nazi bezeichnen oder den „Nazi“-Rufen aus dem Block der Gegendemonstranten während seiner Reden zustimmen. Wer Höcke als Nazi bezeichnet, könnte ihm aber unfreiwillig helfen, sich einmal mehr als Opfer der Meinungsdiktatur zu stilisieren. Denn, auch wenn seine Rhetorik bisweilen an Goebbels erinnert: Höcke ist ebensowenig ein Nazi wie Petry, Ulfkotte, Pirincçi und Sarrazin. Sie schüren aber Ängste und Ressentiments bis hin zum Hass. Sie suggerieren, dass es auf komplexe Probleme einfache Lösungen gebe und propagieren ein Freund-Feind-Schema, das das gesellschaftliche Klima vergiftet. Sie ködern auch manche anständigen Menschen. Sie sind Scharfmacher gegen die liberale Demokratie wie einst die Vertreter der „Konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik – die selbst keine Nazis waren, aber diesen durch ihre maßlose Kritik an der Demokratie den Weg bereiteten. Daher erscheint strikte Abgrenzung gegen sie das Gebot der Stunde.
Ute Wild, m.A. 74 J.alt
Guter differenzierter Artikel. Dennoch – für mich sind diese Rechtsaussen, Rechtspopulisten, Rechtsextremisten, Totengräber der Demokratie braunes Nazi-Gesindel, Nazis und (auch damals waren die meisten) Nazi- Mit-Läufer
Nie wieder, wehret den Anfängen.
Robert
Nazi = Nationaler Sozialist
Diese Begrifflichkeit ist ein Widerspruch in sich, da man nicht natioanlistisch und sozialistisch gleichzeitig sein kann, da der Sozialismus immer auch Internationalismus bedeutet. Von daher ist es jetzt keine große Erkenntnis, dass es nicht zielführend ist, diese Personen pas tout als NAzi zu bezeichnen.
Dies soll aber nicht davon abhalten, die nationalistischen, rassistischen und chauvinistischen Aussagen der oben genannten Autoren und Politiker zu benennen. Tut man dies nicht, lässt man eben den Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus zu, den diese Leute predigen.
Olaf
Also als differenziert würde ich den Artikel nicht bezeichnen. Man liest doch schon am letzten Satz.”Daher erscheint strikte Abgrenzung gegen sie das Gebot der Stunde”. Das ist nicht neutral sondern wertend. Wie es in der normalen Lügenpresse auch getan wird. Hier wird eindeutig gegen eine bestimmte Sache geschrieben und nicht über diese. Da kann man auch gleich BILD, MoPo oder FAZ lesen. Den Artikel hätte ich mir sparen sollen.
Hermann-Peter Steinmüller
Das Problem liegt in der politischen Unbedarftheit vieler Zeitgenossen und in einer erschreckenden Geschichtslosigkeit. Die genannten Autoren agieren in einer für mich unfassbar abstrakten Welt. Ich bin Praktiker. Entweder ich finde einen Menschen sympathisch oder nicht. Entweder eine Frau gefällt mir oder nicht. Was interessiert mich dann Hautfarbe, oder “Rasse”?
Nazis sind auf der einen Ebene gesehen Faschisten. Was kennzeichnet den Faschismus? -Führerkult, Überlegen einer Rasse, Antisemitismus. Daneben gibt es aber Menschen, und zu denen zähle ich die neue Rechte, denen die offensichtlichen Erkennungsmerkmal der Faschisten zumindest teilweise fehlen. Aber sie verfolgen im Prinzip die selben Gedankengänge wie die Nazis.
Vergessen wir nicht die Ideologie die hinter den Nazis steht. Abstammung von den Ariern, minderwertige Rassen durch die Vermischung der Arier mit Affen, Weltherrschaft für die Arier (nicht für die Deutschen!), Rückzüchtung der arischen Rasse (Lebensborn!). Es wäre zu untersuchen, welche Ideologie hinter den Akteuren der neuen Rechten steht.
Sandra
Für einen Abiturienten war das – teilweise – gar nicht so schlecht. Insbesondere der Verweis auf Gramsci war interessant. Es ist ja so, dass sich die Linken, die Kulturmarxisten, die 68er, die Deutungshoheit über die Begriffe angemaßt haben und immer noch anmaßen. Gramsci von links scheinst du ja zu befürworten (?!).
Doch die Zeit schreitet voran und ich denke, dass wir gerade Zeugen eines Paradigmenwechsels werden. Durch den ungeregelten Zustrom von Flüchtlingen und Armutsmigranten hat sich die öffentliche und veröffentlichte Meinung bereits geändert.
Die Deutschen werden jetzt wieder stärker auf das Eigene zurückgeworfen.
Statt dich abzugrenzen (wie du leider im letzten Satz schreibst), solltest du vielmehr das Gespräch mit den Leuten suchen, mit denen du dich in deinem Text so ausführlich beschäftigst.
Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, die Ideologien endlich mal beiseite zu lassen und eine neue Vision für Deutschland zu entwickeln, die weder “links” noch “rechts” geprägt ist, sondern die bürgerlichen Freiheitsrechte in den Mittelpunkt stellt.