Schwangere in Not, Menschen mit der Erfahrung eines Schwangerschaftsabbruchs, alleinerziehende Eltern oder Interessierte – sie alle sind in der „VillaVie“ herzlich willkommen. Laetitia Jennißen und Clara Neuß von f1rstlife haben mit der Leiterin Tirza Schmidt über das Projekt gesprochen.
Bochum ist für vieles bekannt, aber nicht unbedingt für Natur und viel Ruhe. Doch nur ein paar Minuten nach der hektischen Bundesstraße wird es plötzlich ruhig, geradezu dörflich. Direkt zwischen ein paar Bäumen und einer kleinen Bäckerei lädt die VillaVie dazu ein, von uns entdeckt zu werden. „Ein Dorf mitten in der Stadt“, lacht Tirza Schmidt und zeigt uns einen Raum mit einem bunten Sofa und großen Fenstern.
Die Sonne scheint hier vermutlich den ganzen Tag hinein. Wir sehen nach draußen, es ist deutlich weniger los auf den Straßen. Doch die Probleme, Sorgen und Ängste vieler Menschen sind durch Corona nicht einfach verschwunden. Besonders die nicht, über die man ungern mit anderen spricht. „Einen Kaffee? Tee? Kekse?“, Tirza lächelt, sie kennt viele junge Frauen wie uns, die zu ihr kommen, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Die VillaVie ist für sie ein Ort, um ins Gespräch zu kommen, wo sonst geschwiegen wird.
Wer besucht die VillaVie und welche Sorgen sind das, möchten wir von Tirza wissen, als diese gerade drei Tassen Kaffee in der einen Hand balanciert und mit der anderen die Kekse auf den Tisch stellt. „Oft sind es junge Frauen in Eurem Alter, zwischen 20 und 30 Jahren alt“, sagt Tirza.
„Manchmal sind es auch Eltern oder Großeltern, die merken, dass da tatsächlich jemand fehlt.“ Es kämen zu ihr Menschen in akuter Not; solche, die jemanden zum Reden brauchen oder auch solche, die einfach gerne mit dabei sind. Viele kämen immer wieder, einige hielten auch schriftlich Kontakt. Sie schweigt einen kurzen Moment, gießt sich eine Tasse Kaffee ein. Im Raum hängt ein Bild, auf dem steht: „Follow your heart“.
Tirza hebt den Blick, schaut es sich an, erinnert sich an die vielen Gespräche in der vergangenen Woche. „Viele Frauen sind schwanger und wissen einfach nicht, wie es weitergehen soll. Viele werden verurteilt mit ihren Sorgen. Andere möchten hier, in dieser geschützten Atmosphäre, über das Kind reden, das fehlt. Manche haben schon einen oder mehrere Schwangerschaftsabbrüche hinter sich. Hier, in der VillaVie, können alle aussprechen, was passiert ist und wie es sich heute anfühlt. Sie werden hier angenommen, dürfen sein, wie sie sind. Hier wird keiner verurteilt.“
Deshalb gehe es auch nicht darum, selbst die Lösung zu sein, sondern, den anderen beim Finden seiner eigenen zu helfen: „Du bist in einer Bredouille und ich bin da.“ Tirza lächelt erneut, auch wenn es in den Gesprächen sicher nicht immer leicht fällt. Es sei gut, mitzufühlen, sagt sie. Denn dadurch erkenne man die Würde des Menschen an und investiere sein Herz, um genau das zu tun, was gebraucht werde. Wir spüren, wir sind nun mitten in der Arbeit der VillaVie angekommen. Tirza nimmt endlich einen Schluck aus der Tasse, der Kaffee ist bereits etwas kalt.
In Deutschland gibt es keinen vergleichbaren Ort wie die VillaVie. Jedes Gespräch ist selbstverständlich kostenlos, nichts muss erbracht oder gezahlt werden. Wir fragen uns, wie die Idee einer solchen Villa entstand, warum es überhaupt eine Villa ist und wie das Projekt erfolgreich werden konnte. Tirza schaut zufrieden aus dem Fenster, ihre Augen schimmern. In zahlreichen Erinnerungen sucht sie wohl gerade den Anfang, an dem alles begann.
„Ich wollte schon immer Hebamme werden, das war mein Traum“, lächelt sie schließlich ein wenig verschmitzt. „Mir lagen die jungen Frauen mit ihren Kindern am Herzen. Ich wollte ihnen dabei unterstützend zur Seite stehen.“ Doch das allein reicht Tirza nicht. Sie spürt, dass es einen Ort braucht, an dem das Leben, „La Vie“, wie es auf Französisch heißt, jeden Tag gefeiert wird. Ein Ort, an dem man zuhört, sich annimmt, wie man ist und darüber spricht, wie schön und wertvoll das Leben ist. Tirza entschließt sich, aus dem medizinischen System auszusteigen und alles in ihren Traum zu investieren. Eine alte Villa in der Straße ihres Elternhauses wird zuerst der provisorische Ort für die VillaVie.
Doch: Das Haus ist heruntergekommen. Es bröckelt bereits an der Fassade, vieles müsste getan werden, aber es fehlt nun das Geld. Tirza fängt wortwörtlich mit nichts – außer ihrem Herzenswunsch – an. Sie deutet auf die Kaffeemaschine im Raum: „Die habe ich zum Beispiel nur durch Pfandsammeln finanziert.“ Doch Tirza gibt nicht auf. Sie findet ein neues Gebäude, zwar weit weniger Villa, dafür aber hell, bunt und lebendig, wie das Leben es nun mal ist. Sie erzählt Freunden und Bekannten von ihrer Idee, packt gemeinsam mit ihnen an, renoviert die Räume und wartet.
Sie wartet vorerst vergeblich, denn was nützt die beste Idee, wenn sie nicht bekannt wird. Im April 2017 weiß noch keiner etwas von einer solchen Einrichtung – geradezu sinnbildlich ist, dass ausgerechnet Kinder die ersten Besucher der VillaVie waren. „Während die Eltern in der Bäckerei nebenan saßen, habe ich mit ihnen zusammen mit Kreide gemalt, gespielt und ihnen das Fahrradfahren beigebracht.“
Tirza lacht kurz auf, sagt uns, wir sollen mitkommen, geht zum Eingang und zeigt uns stolz das Fahrrad, das heute noch dasteht. Mit den Kindern kamen auch die Mütter. Aus einem Gespräch wurden immer mehr. Heute helfen elf Ehrenamtliche und zwei auf Minijob-Basis in der VillaVie tatkräftig mit, investieren dabei ihr fachliches Know-How, ihre Zeit und Kreativität, um in den Dialog zu kommen. Es gäbe einige, die sich gerne engagieren möchten. Doch Tirza achtet sehr darauf, wer dabei ist: „Wo VillaVie dran steht, muss auch VillaVie drin sein. Die Vision, die mich zu dieser Einrichtung ermutigt hat, muss auch von anderen Engagierten geteilt werden.“
Drei Tage pro Woche kann mittlerweile jeder die VillaVie besuchen. Aus einem Plüschtier und einem Fahrrad ist ein ganzer Korb mit Spielsachen geworden. Kinder können kommen und sich alles aussuchen, es ausleihen und auf dem gesamten Gelände spielen, während die Erwachsenen das persönliche Gespräch suchen oder eine therapeutische Beratung vereinbaren. Denn Tirza Schmidt ist nicht nur Familienhebamme, sondern auch Heilpraktikerin im Bereich Psychotherapie.
Bei schönem Wetter gibt es auch draußen Sitzmöglichkeiten, die Tische sind mit Kerzen und Blumen geschmückt. Innen drin ist es nicht nur farbenfroh, sondern auch, wie Tirza sagt, ungezwungen: „Man kann einfach da sein und entspannen, sich unterhalten, singen oder Klavier spielen.“ Neben den Öffnungszeiten gibt es außerdem feste Veranstaltungen in der VillaVie, zum Beispiel ein gemeinsames Frühstück für alle am letzten Freitag im Monat mit frischen Brötchen, verschiedenen Aufstrichen und bunten Kaffeetassen. Der sogenannte „VillaVie-Brunch“ ist darüber hinaus ein gemeinsames Essen, das sich speziell an Menschen richtet, die bereits einen Schwangerschaftsabbruch erlebt haben. „Dort sollen Betroffene aus der Isolation heraustreten und sich mit anderen austauschen können“, erklärt Tirza und denkt an weitere abwechslungsreiche Ereignisse aus der Vergangenheit zurück: So gab es bereits Babypartys für Schwangere aus der Nachbarschaft, eine Studentenparty oder das Einrichten der ersten eigenen Wohnung, ganz nach den Wünschen der betreffenden Frau.
So bunt und vielseitig das Programm in der VillaVie auch ist – in diesem Jahr 2021 hat Tirza einen ganz besonderen Herzenswunsch: „Ich wünsche mir ein Paket in allen Kreißsälen Deutschlands.“ Sie wartet einen kurzen Augenblick, um zu sehen, wie wir reagieren. Wir fragen uns, was wohl drin ist in diesem Paket. Tirza weiter: „Wir möchten Hebammen dort erreichen, wo sie sind: Im Kreißsaal. In Deutschland gibt es 680 Kreißsäle. Das ergibt 680 Pakete.“ Hebammen, das weiß Tirza aus eigener Erfahrung, sind das wichtige Bindeglied zwischen dem Krankenhaus und der Familie. „Auf der einen Seite stehen die Hebammen täglich im Krankenhaus und geben alles, damit Mutter und Kind den Kreißsaal gesund verlassen können.
Und auf der anderen Seite leiten sie eine Geburt, bei der das Kind schon vor der Kreißsaaltür induziert nicht mehr lebt.“ Sie stockt. „Das kann Hebammen – als Fachpersonal und Menschen – wirklich ans Herz gehen und sie betroffen machen.“ Auch wir spüren, wie aus einem Geschenk nun bitterer Ernst werden kann – und beides verbindet die aktuelle Aktion von Tirza und der VillaVie. Ein sogenannter später Schwangerschaftsabbruch oder Fetozid ist in Deutschland bis zum Einsetzen der Wehen möglich.
Als Fetozid wird die gezielte Tötung eines ungeborenen Kindes im Mutterleib bezeichnet. Noch immer gehöre ein Fetozid zu den Tabuthemen – und darüber zu sprechen, sterbe zusammen mit dem Schweigen. Eine unerträgliche Situation, aus der nun das neue Projekt geschnürt wird. Am 24. April 2021 ist es so weit: 680 Päckchen werden gepackt und verschickt. Freude und Sorge hängen auch hier eng beieinander.
Auch Tirza bewegen die vielen Geschichten. Doch sie hat einen Weg gefunden, mit den belastenden Gefühlen zurechtzukommen. Sie sagt: „Je mehr Menschen mir erzählen, wie es ihnen geht mit dem Schwangerschaftsabbruch, desto mehr verstehe ich, dass es niemand gerne oder einfach so macht.“ Dieses Gefühl helfe ihr, das Gegenüber immer mehr in den Fokus zu rücken. Früher habe sie der Gedanke an das Leid dieser Menschen ohnmächtig gemacht. Es habe ihr keine Ruhe gelassen. Jetzt sei das anders: „Ich weiß, dass ich etwas tun kann. Ich gebe nichts Neues vor, sondern stärke das, was schon längst vorhanden ist, um Stütze und Hilfe zu sein.“
Noch immer stehen wir draußen an der Eingangstür. Als wir schließlich zurück in das Zimmer gehen, sehen wir ein Bild mit dem Titel „Walk – ins Welcome“. Noch immer fragen wir uns, was in dem Päckchen drin sein soll. Tirza löst auf: Die VillaVie möchte die Hebammen wertschätzen und individuell fragen: „Wie geht es dir damit?“ Im Päckchen befindet sich ein persönlicher Brief in eigener Handschrift von Tirza, eine VillaVie-Kaffeetasse mit der Aufschrift: „Du bist randvoll wertvoll“, 150 Gramm frisch gerösteter Kaffee aus der Kaffeerösterei Bochum, ein selbstgebackener VillaVie-Keks; ein VillaVie-Infoflyer speziell für die Hebammen, ein VillaVie-Kulli und direkte Antwortkarten, wenn man zurückschreiben möchte.
Ihr Traum, „ein Paket in alle Kreißsäle Deutschlands“ ist durch viele Spender und durch ehrenamtliches Engagement wahr geworden. Auch die Stiftung JA ZUM LEBEN hat die Aktion maßgeblich mit gesponsert. Seither nehmen immer mehr Menschen die Angebote in der VillaVie wahr. Tirza überlegt nun sogar, neue Standorte aufzubauen, am liebsten in allen großen Städten in Deutschland. Die Sorgen und Nöte der Menschen seien da. Es gäbe so viele, die mit ihren Ängsten immer noch alleine stünden. Doch egal, an welchen Orten neue VillaVies entstehen könnten, sie werden eines gemeinsam haben: Die Vision dahinter, die lebendig wird, egal an welchem Ort.
Damit jeder spürt: Als Mensch ist er absolut wertvoll. Gastfreundschaft und Wertschätzung werden hier gelebt. Die Finanzierung gelingt mittlerweile zu 90 Prozent aus Spenden. Die restliche Summe kann Tirza rein rechtlich in therapeutischen Gesprächen in Rechnung stellen. Wenn die Menschen allerdings nicht zahlen können, ist die Begleitung aber selbstverständlich kostenfrei. Eine finanzielle Unterstützung, in Form von Spenden, wird nach wie vor gebraucht werden. „Die Nachfrage steigt. Wir wollen keinen Menschen alleine- und zurücklassen“, sagt Tirza.
Ihre Stirn legt sich plötzlich in Falten. Sie erinnert sich, wie schwer es anfangs gewesen ist, den Menschen nach einer gelungenen Veranstaltung oder am Ende eines Tages zu sagen, dass sie gehen müssten. Auch wir sind dabei, uns nun von ihr zu verabschieden. Doch dann hellt sich ihr Gesicht auf. Auch das hat sie heute verstanden: „Erst wenn du gehst, kannst du wiederkommen“, sagt sie schmunzelnd. Auf ein Wiedersehen.
Die VillaVie wurde im Jahr 2017 von Tirza Schmidt in Bochum Laer gegründet. Tirza hatte als Hebamme den Traum, eine Begegnungsstätte zu schaffen, in der „das Leben gefeiert wird“. Heute besteht das Team aus elf ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und zwei 450-Euro-Minijobbern. Täglich sprechen sie mit Menschen unterschiedlichen Alters, vor allem aber mit jungen Frauen, die erst kürzlich einen Schwangerschaftsabbruch erlebt haben, sich in einer Schwangerschaft befinden oder über das Leben sprechen möchten und Unterstützung suchen. Keiner muss dafür etwas bezahlen oder geben. Es ist Tirzas Herzensprojekt, jeden Menschen so anzunehmen und zu feiern, wie er ist.
Konkret heißt das, dass die VillaVie an drei Tagen in der Woche geöffnet ist für Gespräche, Beratung und offenes Aufeinandertreffen. Wer ein Gespräch unter vier Augen wünscht, kann sich auch einen Termin außerhalb der normalen Öffnungszeiten geben lassen, auf Nachfrage auch an einem neutralen Ort. Da Tirza Schmidt voll ausgebildete Heilpraktikerin für Psychotherapie ist, kann ein solches Gespräch auch auf therapeutischer Basis stattfinden.
Neben den zahlreichen Gesprächen werden auch viele regelmäßige Events veranstaltet, bei denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen können. Besonders markant sind der VillaVie-Brunch und das allmonatliche Freitagsfrühstück, das für Menschen in Not ins Leben gerufen wurde, sei es finanzieller, emotionaler oder sonstiger Natur. Alle Veranstaltungen sind familienfreundlich angelegt.
Das Projekt wird zu 90 Prozent über Spenden finanziert. Ziel ist es, in Zukunft auch in anderen Städten für junge Frauen da zu sein. Dafür braucht das Projekt auch fortwährend weitere Unterstützung. Weitere Informationen zur VillaVie finden sich auf der Homepage: www.villa-vie.org. Dort können Interessierte auch mehr über Tirzas Traum erfahren, der mit einem „Paket in allen Kreißsäle Deutschlands“ im April 2021 wahr wurde.
Schreibe einen Kommentar