Man sieht den Mann erst spät im Fahnenmeer. Als er auftaucht, branden Jubel auf und Applaus. Während des Gangs zum Mikrofon bleibt er kurz stehen, blickt mit Wohlgefallen auf die Menge und ruft etwas, geht weiter, klatscht und ballt die Faust. Dann zeigt er mit dem Finger auf irgendetwas, worauf genau, kann die Kamera nicht sehen. Er tritt ans Rednerpult. In seiner Rede sagt er schließlich folgenden Satz:
„Manchmal sind das meiner Meinung nach keine Menschen. Aber das darf ich nicht sagen, weil die Linksradikalen das furchtbar finden. Das sind Tiere, okay, und wir müssen das stoppen.“[1]
Das sagte Donald Trump, als er schon nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war, sehr wohl aber wieder werden wollte. Mit den „Tieren“ meinte er Migranten.
Wenn Du den 1. Teil oder den 2. Teil dieses spannenden Themas verpasst hast, lies ihn Dir hier gerne nochmal durch!
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„Wer die Grenzen des Sagbaren abstecken und über den öffentlichen Diskursraum bestimmen kann, verfügt über ‚kulturelle Hegemonie‘“, schreibt Andreas Rödder unter Verweis auf den Marxisten Antonio Gramsci.[16] Den Kampf darum hatten die demokratie- und republikfreundlichen Akteure der ersten Stunde nicht erwartet und standen ihm mehr oder weniger hilflos gegenüber, waren nicht einmal in der Lage, die Macht der Institutionen konsequent zu nutzen, die oft genug noch von den reaktionären Eliten durchsetzt waren. Um wahrgenommen zu werden, kamen selbst staatstreue Redner und Schreiber nicht umhin, in diese Auseinandersetzungen einzusteigen.
Auch wenn deren Sprache nicht annähernd das Aggressionspotential der Extremisten hatte, konnte die Antwort nur eine weitere Eskalation sein. Sachliche Analysen, die dem Leser die Chance boten, sich ein eigenes Bild der Lage zu machen, waren demokratischen Qualitätsblättern wie dem Berliner Tageblatt, der Frankfurter Zeitung und der Vossischen Zeitung vorbehalten, die allerdings nicht den Massenmarkt bedienten. Ihre wirtschaftliche Lage wurde während und vor allem gegen Ende der Weimarer Republik immer schwieriger, auch ein Indiz für die strukturelle Verschiebung und Orientierung der öffentlichen Meinung hin zu den extremen Rändern.
Eine besondere Volte in dieser Klimax der inhumanen Sprache war, dass manche der Angesprochenen – am anderen äußersten Rand des politischen Spektrums – die so formulierten Schmähungen gleichsam als Kompliment in ihre eigene Propaganda aufnahmen. Als die KPD der SA beispielsweise 1932 das Schimpfwort “Mördersturm” entgegenschleuderte, wurde es von besonders eifrigen SA-Männern als Epitheton ornans aufgegriffen und bei Straßenaufmärschen gesungen: “Wir sind die Nazi-Leute vom Mördersturm Charlottenburg”.[17]
Dieser “Ehrentitel” sollte Angst und Schrecken verbreiten, eine Wirkung, durch die sich die meist unfassbar primitiven oder sozial verwahrlosten Männer aufgewertet fühlen konnten. Eine ähnliche Intention verfolgten die Nationalsozialisten mit der Strategie, die Wörter “fanatisch”, “brutal”, “hart” oder “rücksichtslos”[18] positiv umzuwerten, zum einen, um die eigenen Leute gleichsam zu adeln und umso geschlossener hinter sich zu versammeln, zum anderen, um nach außen keinen Zweifel an der eigenen Kompromisslosigkeit zu lassen. Es waren schon bizarre Blüten, die die Verrohung der politischen Sprache trieb, und es ist bezeichnend, dass dies zur kommunikativen Realität dieser Zeit gehörte. Noch einmal Victor Klemperer:
„Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus ging in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden.“[19]
Keine Grenze des „Sagbaren“ mehr
Gegen Ende der Weimarer Republik schien es keine Grenzen des Sagbaren mehr zu geben. Denn es ging immer mehr darum, die eigene Anhängerschaft zu bedienen und zu mobilisieren – links wie rechts. Die Hitze republik- und menschenfeindlicher Agitation erfasste auch zunehmend die Jugend.[20] Die fortwährende Verletzung der Würde von Politikern, von Andersdenkenden, von Parlamenten und auch der Verfassung höhlte Staat und Zivilgesellschaft der jungen Republik sukzessive aus.
Oft werden heute Vergleiche zu damals gezogen, wird besorgt darüber nachgedacht, inwieweit sich der öffentliche Diskurs schon wieder am Rand des Abgrunds bewegt. Da spricht einiges dafür und einiges dagegen. Die Anzahl der Tageszeitungen in Deutschland ist auf wenige hundert gesunken, jedoch ist der Raum, kleine oder mittlere Gefolgschaften zu sammeln und zu radikalisieren, groß wie nie. Wie sich an den Erfolgen von AfD-Politikern namentlich auf dem Videoportal TikTok, aber auch auf anderen Social-Media-Plattformen in Gestalt Hunderttausender Follower zeigt, hat der technische Fortschritt, über die sozialen Netzwerke massenmedial zu wirken und niederschwellig Informationsangebote zu lancieren, nicht nur Demokraten inspiriert. Klickzahlen definieren eine neue Art von Macht. Die schier endlosen Möglichkeiten, das potentielle Publikum über Algorithmen zu vervielfachen, wirken entfesselnd – und enthemmend.
Gleichwohl reagiert die breite öffentliche Meinung auf verbale Entgleisungen. Das Entsetzen darüber ist authentisch und es lässt auch bislang glücklicherweise nicht nach – allerdings kann man fragen, ob moralische Maßstäbe, die sich an Artikel 1 des Grundgesetzes festmachen, für alle Player im öffentlichen Diskurs gleichermaßen gelten. Auch am abgestuften Umgang mit Extremisten unterschiedlicher Couleur lässt sich durchaus ein Kampf um „kulturelle Hegemonie“ ablesen.
Sprachliche Entgleisungen heute
Hass und Hetze gibt es auf beiden Seiten, wobei viele Diskursteilnehmer diese Alliteration gerne „den Rechten“ vorbehalten möchten, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass sie auf der gleichen Klaviatur spielen. Wenn ein Jesuitenpater auf dem Weg zu einer „Pro-Life“-Kundgebung von Gegendemonstranten als „Nazi-Schwein“[21] beschimpft wird, ist das nicht besser als das Mantra von „Messermännern“, das durch die AfD beschworen wird.
Beide Schmähbegriffe kommen im Grundsatz den extremistischen Pöbeleien hundert Jahre zuvor recht nahe. Der Begriff „Bullenschwein“ gefällt indes offenbar Rechts- wie Linksextremisten: Das Menschsein von Repräsentanten des freiheitlichen Staates wird angezweifelt, tätliche Angriffe scheinen auf diese Weise legitimiert. Die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen und die unwiderlegbare Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung damals maximale Schuld auf sich lud, machen rechtsextrem motivierte Sprachbilder und Propaganda allerdings besonders widerwärtig. Wenn ein AfD-Vorsitzender verächtliche Bemerkungen über die NS-Zeit als „Vogelschiss der Geschichte“ macht, beleidigt er das Andenken an Millionen ermordeter Menschen, erschossen, vergast, hingerichtet oder zu Tode gequält.
Gegen die Gefahr eines Rückfalls in die staatszersetzende Rhetorik vieler Akteure der Weimarer Republik spricht, dass die Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelange Übung darin hat, dergleichen auszuhalten. Es waren auch die sprachlichen Erfahrungen zwischen 1919 und 1933, die für die Zeit nach 1945 nutzbar gemacht worden sind:
„Das heißt, dass die erste deutsche Demokratie – anders als die NS-Zeit – als positive wie negative Folie für die Gesellschaft, das politische System und auch den öffentlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik – etwas bei der Formulierung des Grundgesetzes oder der Landesverfassungen – wirksam werden konnte und bis heute relevant bleibt.“[22]
Mäßigung – diese Tugend wurde im politischen Überlebenskampf der Weimarer Republik zum Ausweis von Schwäche und Sprachlosigkeit. Belohnt wurde hingegen marktschreierische Präsenz. Das äußerte sich auch im Aufschwung, den Boulevardblätter in den 1920er Jahren nahmen. Ihre Berichterstattung berücksichtigte keineswegs nur Sport, Klatsch und Verbrechen. Sofern politische Ereignisse die Zutaten für Sensationsmeldungen lieferten, wurden sie – darauf reduziert – abgebildet. Dafür gab es mit der zunehmenden Zahl von Saal- und Straßenschlachten sowie der daraus resultierenden Gerichtsprozesse genügend Stoff. Das zahlte auch auf das Konto der Verursacher ein, denn mediale Aufmerksamkeit war der Resonanzboden erfolgreicher Propaganda. Und die Nationalsozialisten empfahlen sich damit der Wahrnehmung durch eine breitere Öffentlichkeit. Den Wert auch von negativem „Marketing“ hatte Joseph Goebbels, von 1926 bis 1945 Gauleiter von Berlin, früh erkannt.[23]
Vielleicht hätte sich der Versuch gelohnt, mehr um das emotionale Potential der Menschen zu werben, eine Art Aufbruchstimmung zu generieren. Oder wenigstens sie dazu zu bewegen, sich auf die neue Zeit einzulassen, den eigenen kleinen Alltag im Einklang damit zu bringen. Immerhin hatten mit den Frauen mehr als 50 Prozent der deutschen Bevölkerung allen Grund, die Zeitenwende 1918/19 nicht nur negativ zu sehen: Sie hatten ab sofort politisches Mitspracherecht. Doch das Gefühl von Unsicherheit, Instabilität und Deklassierung setzte sich durch, mehr noch, potenzierte sich. Ein Ventil war, die Frustration darüber in verletzende und ausgrenzende Worte zu fassen, die sich heute unter Demokraten verbieten. Diese Radikalität nährte wiederum den Reflex der Gegenwehr auf Seiten der so Angesprochenen, stärkte Feindbilder und ließ keinen Raum für Dialog oder gar Versöhnung. So schwoll der Lärm immer mehr an, nicht nur auf den Straßen, sondern auch in der Presse. Bis die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland am 30. Januar 1933 unter den permanenten Stößen ihrer Feinde endgültig zusammenbrach.
Ein Gastbeitrag von Dr. Birgit Rätsch.
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Literatur:
Braun, Christian A., Nationalsozialistischer Sprachstil, Heidelberg 2007.
Eitz, Thorsten/Wengeler, Martin, Semantische Kämpfe in der Weimarer Republik. Zur vergessenen Geschichte politischer Sprache in Deutschland, in: Jörg Kilian/Thomas Niehr, Politik als sprachlich gebundenes Wissen (Hrsg.), Bremen 2013, S. 33–44.
Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Berlin/Boston ⁴2012.
Fulda, Bernhard, Die Politik der „Unpolitischen“. Boulevard- und Massenpresse in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 48–72.
Gräb, Sebastian, Der Sprachgebrauch paramilitärischer Kampfbünde: Eine Untersuchung zur politisch-ideologischen Kommunikation in der Weimarer Republik, Hamburg 2018.
Klemperer, Victor, Lingua Tertii Imperii, Stuttgart ²²1975/2007.
Krämer, Andreas, „Fort mit Erzberger!“ „Knallt ab den Walther Rathenau!“ – zwei politische Morde im Spiegel der Presse, in: Horst D. Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik, Frankfurt a. Main 2003, S. 79–90.
Pörksen, Bernhard, Die Konstruktion von Feindbildern, Wiesbaden ²2005.
Reichardt, Sven, ‚Vor allem sehne ich mich nach Euch, Kameraden.‘ Eine mikrohistorische Analyse der SA, in: Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg u.a. 2009, S. 89–112.
Rödder, Andreas, Das Ende der grünen Hegemonie, F.A.Z. vom 8. 1. 2024, S. 6.
Schewe, Lars, Der uns aufgezwungene Weltvertrag. Die Presse zum Frieden von Versailles, in: Horst D. Schlosser, Das Deutsche Reich ist eine Republik, Frankfurt a. Main 2003, S. 51–61.
Schmitz-Berning, Cornelia, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin ²2007.
Schneider, Sabine (Hrsg.), Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2010.
Schottmann, Christian, Politische Schlagwörter in Deutschland zwischen 1929 und 1934, Stuttgart 1997.
Schumann, Dirk, Politische Gewalt in der frühen Weimarer Republik (1919–1923) und ihre Repräsentation in der politischen Tagespresse, in: Ute Daniel/Inge Marszolek/Wolfram Pyta/Thomas Welskopp, Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, S. 279–310.
[16] Andreas Rödder, Das Ende der grünen Hegemonie, F.A.Z. vom 8. 1. 2024, S. 6.
[17] Vgl. Sven Reichardt, ‚Vor allem sehne ich mich nach Euch, Kameraden.‘ Eine mikrohistorische Analyse der SA, in: Hans-Peter Becht/Carsten Kretschmann/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik, Heidelberg u.a. 2009, S. 89–112, hier: S. 92.
[18] Vgl. Braun, Sprachstil, S. 233. Ebenso: Pörksen, Feindbilder, S. 196.
[19] Klemperer, LTI, S. 26.
[20] Vgl. z.B. den bösartigen Artikel von Ernst Rhode, „Über den Antisemitismus“, in: Die Kommenden, Überbündische Wochenschrift der deutschen Jugend, 19. 9. 1930: „Das als Abscheu gekennzeichnete Gefühl […] ist das Entsetzen des Lebendigen vor dem Toten, des Werdenden vor dem Vergehenden, des Schönen und Reinen vor dem Hässlichen, der madenknisternden Verwesung.“
[21] So geschehen am 13. April in München, beobachtet durch die Verfasserin im Rahmen journalistischer Berichterstattung.
[22] Eitz/Wengeler, Semantische Kämpfe, S. 35.
[23] Vgl. Fulda, Politik der ‚Unpolitischen‘, S. 59 f.
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