Unser Autor Valentin nutzt seine zweite Chance, um als Volunteer im Flüchtlingscamp auf Lesbos zu arbeiten. Mit welchen Herausforderungen er während der ersten Tage auf der griechischen Insel zu kämpfen hat, erfahrt ihr in seinem ersten Beitrag.
Hier geht es zu den weiteren Teilen der Reihe:
Teil II: https://www.firstlife.de/selbst-ein-fluechtling-auf-lesbos-teil-ii/
Teil III: https://www.firstlife.de/bethel-haus-gottes-auf-lesbos-teil-iii/
Teil IV: https://www.firstlife.de/nichts-ist-normal-im-alltag-auf-lesbos-teil-4/
Loslassen
Im Hintergrund verströmt die Dunstabzugshaube ihr monotones Rauschen. Auf der Terrasse zirpen Grillen oder singen Spatzen. Gelegentlich streift mein Mitbewohner Jona vorbei und fragt, ob er etwas helfen kann. „Nein“, sage ich dann, „ich habe alles im Griff.“ Das war nicht immer so in letzter Zeit. Hin und her ging es in den vergangenen Wochen. Der Sommer war so voll, dass es mit der Bewerbung nur zögerlich voran ging. Dann ist das Lager abgebrannt und es hieß zunächst: „Wir nehmen gerade keine neuen Mitarbeiter.“ Verständlich. Also blieb ich im Schwarzwald, studierte sanft vor mich hin, genoss die immer kälter werdende, von Fichten und Tannen ausgeatmete Waldluft. Frieden und Ruhe. Aber das Klopfen wurde immer lauter. Die innere Stimme kehrte zurück. Schließlich erhielt ich von meiner Dozentin das Angebot: „Ich würde dich unterstützen und die Supervision für dich übernehmen“, sagte sie. Das war meine Chance. Und tatsächlich: Beim zweiten Anlauf klappte es.
Die unbefangene Freude währte kurz und ging nahtlos in Aufregung über. Fahre ich mit dem Auto oder fliege ich? Nehme ich die Gitarre und Hilfsgüter mit? Brauche ich ein Auto vor Ort? Wo wohne ich? Plötzlich erschien alles mir in irgendeiner Weise Vertraute, wie Auto und Gitarre, als enorme Stütze angesichts dieser großen Unbekanntheit, die da auf mich zurollte und ich klammerte mich an allem fest. Ich verstehe jetzt die Menschen besser, die ihr Land fluchtartig verlassen mussten und ihren einen Anorak oder ihren einen Schal verteidigen wie die letzte Bastion ihrer menschlichen Würde. Wenn man nichts mehr hat, alles Vertraute einen verlässt – gewollt oder ungewollt – dann werden die wenigen verbliebenen Dinge und Besitztümer zu Ankern im Leben.
Ich musste diese Dinge loslassen. Freiwillig – ja. Aber loslassen musste und muss ich sie dennoch. Die Menschen, die über die Meerenge zwischen türkischem Festland und griechischen Eiland kommen, haben keine Wahl. Vielleicht hatten sie dies am Anfang, als ihr Herz den tollkühnen, mutigen oder einfach verzweifelten Entschluss fasste, alles hinter sich zu lassen. Aber spätestens am vorzeitigen Ende ihrer Reise, in den Händen der Menschenschmuggler, da hatten sie keine Wahl mehr. Da wird die Waffe auf ihre Brust gedrückt und es heißt: Einsteigen. Ich werde nie wissen können, wie sich das anfühlt. Über das Meer. Aus dem Krieg. In einer Luftblase aus Plastik und Hoffnung auf den Wogen des Meeres herumgeschüttelt zu werden, ausgeliefert an die Hände von gierigen und brutalen Menschen. Ja, Menschen. Aber ich weiß jetzt ein bisschen besser, was loslassen heißt. Auch ich musste mein altes Leben zurücklassen, um nach Lesbos zu kommen. Jetzt bin ich hier.
Im Olivenhain
Der Blick aus dem Fenster der brummenden Propellermaschine entlohnt die schlaflose Nacht am Flughafen Thessaloniki, wo ich nachts wie ein Gespenst zwei Stunden nach einem geeigneten Schlafplatz suchte und schließlich keinen fand. Der Landeanflug gibt einen guten Blick auf das große Flüchtlingslager an der Küste frei.
Auch sieht man Ruinen einer vormals gewaltigen Burganlage, welche die Insel nach Osten abschirmte. Man mag die paradoxe Gemeinsamkeit dieser zwei Bastionen erkennen oder auch nicht. Auf dem Weg in die Quarantäne – eine Standardmaßnahme meines hiesigen Arbeitgebers für alle Neuankömmlinge – weist mein Kollege abermals auf ruinenhafte Stümpfe, die entlang der Küstenstraße aus dem Boden spicken und kommentiert dies mit dem Verweis auf den antiken Hafen, an dem bereits Paulus auf seiner Missionsreise zu biblischen Zeiten andockte.
Immer wieder passieren wir Einzelpersonen, Männer und Frauen, junge Menschen, Familien, ganze Gruppen, mit Kinderwagen oder frei Hand, mit anderem Gepäck oder Plastiktüten. Es sind die Menschen, die in dem neuen Lager untergebracht sind, und von denen viele täglich den einstündigen Lauf in die Hauptstadt Mitilini hin- und zurückpilgern. Allein zahlenmäßig spielen die Flüchtlinge eine große Rolle. Zu mancher Zeit waren doppelt so viele Flüchtlinge wie Alteingesessene auf der Insel. Die Menschen werden immer zahlreicher, bis wir einen Stacheldrahtzaun umfahren, der in einer großen Menschentraube direkt am Wasser mündet – das Tor zum Camp. Hier finden Personenkontrollen statt. Ein großes Feuerwehrauto steht dort, ich sehe Sicherheitspersonal. Und vor allem: viele Menschen. So schnell wie die Szenerie aufgetaucht war hinter der Glasscheibe meines Taxis, so schnell verschwindet sie wieder hinter dem Horizont des weiten Meeres. Auch die Menschen verschwinden, bis gar keine mehr da sind, der Asphalt wird einsamer.
Irgendwann biegen wir in eine Straße ab, die keinen Namen hat. Es geht über holprige Pisten. Laut klatschen Äste und Blätterwerk gegen die Frontscheibe und Seiten des Busses, wie protestierende Menschenhände gegen die Autos von Sicherheitskräften auf einer großen, außer Kontrolle geratenen Demonstration. Stopp! Wo müssen wir hin? Wir lassen die Scheibe runter und fragen einen Mann, der gerade sein Motorrad belädt. Er ist sehr freundlich und will helfen, aber wir verstehen uns nicht. Wir fahren weiter und werden schließlich an dem Parkplatz angespült, der zur gemieteten Ferienwohnung gehört, die uns für die nächsten Monate beherbergen wird. Ich kann es kaum glauben. Ich bin da. Gestern noch in Deutschland, heute inmitten eines Urwaldes von jahrtausendealten Olivenbäumen, so dick wie deutsche Eichen.
Jetzt verstehe ich, warum mancher Flüchtling im Winter Olivenbäume zu Brennholz weiterverarbeitet hat. Mit einer wirbelnden Staubwolke verlässt mich mein Kollege auf dem Weg zum nächsten Termin und ich stehe allein da. Tatsächlich, denn die Kommunikation mit meinem Vermieter stellt sich als missverständlich heraus. Meine Trinkflasche ist leer, die letzten 36 Stunden habe ich quasi nicht geschlafen, ich bin durstig und stehe irgendwo auf einer griechischen Insel inmitten eines gewaltigen Olivenhains vor einem verlassenen Häuschen ohne Schlüssel. Ich weiß nicht, was mich daran hindert, aber irgendwann gehe ich dann doch zum Nachbarhäuschen, das sich geschickt hinter der Ferienwohnung versteckt hält und – Gott sei Dank! – freundliche Gesichter öffnen die Türe und bieten mir an, den Vermieter anzurufen, welcher mir erklärt, wo der Schlüssel zu finden sei. Eine Stunde vergeblichen Wartens hätte ich mir sparen können. Der ganze Stress verpufft schlagartig, als ich die Tür zu meinem neuen Heim auftue und ich einen, von großen Steinquadern im Gemäuer, heruntergekühlten Innenraum betrete. Ich atme auf und denke… Wenn die Flüchtlinge ankommen, warten sie auch. Aber länger. Und sie erwartet keine Ferienwohnung, sondern einfache Zelte oder anderes. Ein riesiges Provisorium jedenfalls, und wenn es von den liebevollsten Händen errichtet wurde, die man sich vorstellen kann, einer Armee von Freiwilligen und Helfern, die das Camp jährlich unterstützen.
Habe ich das verdient? Sicherlich nicht. Haben sie es verdient? Sicherlich nicht. Wir sind so geboren worden und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Ich dusche, wofür ich zunächst den Beuler finden und anbekommen muss; koche, wofür ich mit dem Gaskocher umzugehen lernen muss und mache allerlei andere Sachen, auf mir neue Art und Weise. Ich passe mich an.
Leere Hände
Eigentlich hätte ich vom Flughafen aus direkt zum Corona-Test gebracht werden sollen – zumindest hatte ich das so verstanden. Tatsächlich war es nach meiner Ankunft dann aber direkt ins Appartement gegangen, weshalb ich nun einen Transport zur Praxis am Tag darauf organisieren muss. Ein junger Mann sitzt hinter dem Steuer. Er studiert „Internationale Entwicklung“. Wir fahren in die Hauptstadt. Vespas und Mofas, Motorräder und Taxis umschwirren uns wie Kolibris und stürmische Bienen. Für Zweiräder scheinen die Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt zu sein. „Achtung!“ Rechtzeitig schwenkt mein Kollege den Wagen zurück nach links. Alles im Griff. Von rechts und links überholen sie uns, und ich fühle mich wie ein Fremdkörper innerhalb eines Schwarms von Fischen.
Wir alle müssen uns irgendwie zurechtfinden im Ozean des Lebens. Manchmal oberhalb der Oberfläche, manchmal kopfunter. Manchmal im Sturm. Manchmal, wenn der Meeresspiegel glatter poliert ist, als ein richtiger Spiegel es jemals sein könnte. In Sturm und Stille. Auf dem Parkplatz weist uns ein kleiner Junge in zerfledderten Kleidern einen Platz zu. Wir waren noch nicht ausgestiegen, da bettelt der Junge bereits mit ausgestreckter Hand vor uns. „One Euro“ „Please!“ „Food!“ Corona-Abstands-Regeln kennt er nicht oder interessieren ihn nicht. Manchmal gibt es wirklich Wichtigeres. Für viele Menschen auf der Welt scheint das so zu sein. Menschen, die von der Hand in den Mund leben und es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben. Ich hätte ihm gern einen Euro gegeben, aber ich hatte nur große Scheine für den Test in der Praxis. Auch mein Kollege hat kein Kleingeld. Hätte ich ihm einfach einen Schein geben sollen? Er wirkte wirklich nicht sehr gesättigt. Ich weiß es nicht.
In der Arztpraxis treffe ich auf einen Londoner, der bereits seit einigen Jahren auf der Insel ist. Ich lerne singen, mit einem langen „AAAAAA…“ inklusive Würgereiz, als mir das Wattestäbchen tief in den Rachen gesteckt und dort herumgewirbelt wird, aber wer kennt das dieser Tage nicht… Auf dem Rückweg, als wir den Parkplatz verlassen, wo der Junge uns einen Platz zugewiesen hatte, beobachte ich einen hoffnungslos überforderten, aber dennoch gelassenen Pick-Up-Fahrer, wie er versucht, mit seinem großen Allrader aus der engen Lücke herauszukommen, die frontal von der Autoreihe zugeparkt scheint, die vielleicht der Junge eingefädelt hatte. Mein Herz gluckst mit einem innigen Schmunzeln. Auf der Fahrt zurück unterhalten wir uns, schweigen, fahren die gleiche Straße entlang wie am Vortag.
Wieder die vielen Menschen. Angler stehen immer wieder am Ufer. Und ich kann sie verstehen. Die ruhige See zu Füßen und ein weiter Horizont. Etwas in der Hand zu haben. Ein eigener Fisch, ein eigener Erfolg, an einem Ort, wo einem sonst alles nur zugewiesen wird. Sich die Hände füllen zu lassen, ist ein wunderschönes Gefühl, ein Geschenk. Trotzdem sind unsere Hände auch zum Schaffen da, etwas Eigenständiges aufzubauen und selbstständig zu leben. Ja, zu leben. Ich war noch nicht im Lager, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es im Lager keinen allzu weiten Horizont gibt, jenseits der Zäune und bürokratischen Regulierungen – trotz des Meeres nebenan. Heilsam da der Blick von der Angelrute über das Meer zum Horizont und wieder zurück zu dem eigenen Fisch in der Hand und später in der Pfanne. Schnell ändern sich die Dinge auf dieser Insel. Ich komme heim und abends sind wir schon zu dritt in meiner bzw. dann unserer neuen und für mich jetzt schon weniger neuen Wohnung. „Herzlich willkommen!“
In Kürze folgt Teil 2.
Ben G
Richtig gut, dass Du die Sicherheiten Deiner Komfort-Zone aufgegeben hast und wie ein Flüchtling mit leeren Händen angekommen bist….um von den Menschen dort beschenkt zu werden und selber Dich verschenken konntest!