Sergej (Name geändert), 25, lebt in der Oblast Donezk und arbeitet als Lehrer für Mathematik. Seine Heimatstadt liegt im von ukrainischen Regierungstruppen kontrollierten Teil des Donbass, nicht weit entfernt vom Gebiet der »Volksrepublik Donezk«. Ein Interview über die derzeitige Situation in dem von Krieg und Inflation gebeutelten Land. Von Florian Ossadnik
Wie ist die Lage zurzeit?
Denkbar schlecht. In den Supermärkten sind die Regale zwar nicht leer, aber die Preise sind sehr hoch. Brot und andere Grundnahrungsmittel sind so teuer wie nie zuvor, ebenso die medizinische Versorgung. Es trifft vor allem die Rentner, da sie sich nicht mehr die nötigen Medikamente leisten können. Viele alte Menschen sterben deshalb, und auch weil diese Situation sehr viel Stress bedeutet. Meine Eltern haben mir erzählt, dass es in der Zeit des Umbruchs in den neunziger Jahren ganz ähnlich gewesen ist. Viele ältere Leute sind damals gestorben, aber nicht nur, weil die Versorgung zusammengebrochen war. Es lag auch daran, dass die Gesellschaft und das Leben, das man gewohnt war, plötzlich aus den Fugen geraten waren.
Wie geht es deiner eigenen Familie?
Wir können es gerade so schaffen, meine Freundin arbeitet als Ökonomistin (Betriebswirtin) und meine Eltern haben noch etwas angespart, sodass wir unseren Verwandten helfen können. Mein Bruder hilft auch. Allgemein ist es ja bei uns so, dass viele Leute selbst Gemüse und Obst anbauen und einlagern, sonst hätten wir hier eine echte Hungerkatastrophe wegen der Inflation.
Kennst du jemanden, der in der „Volksrepublik Donezk“ lebt?
Ja, einige Leute sogar. Es gibt Passierscheine, damit die Leute ihre Verwandten im ukrainischen Teil sehen können. Ich bin selbst aber nie dort gewesen und kann nicht viel über die dortige Situation sagen. Man muss viele Blockposten passieren, um dort hinzukommen. Man wird durchsucht und muss sich ausziehen. Das ist sehr unangenehm, weshalb ich nicht dorthin fahre. Ich weiß, dass es dort für einige Zeit keinen Strom gab. Es gab auch kein Geld mehr für Krankenhäuser und keine Renten. Ich bin nicht im Bilde darüber, wie es jetzt ist. Man sagt, die Versorgungslage sei noch schlechter als hier.
„Man lebt einfach so weiter“
Wie geht ihr mit der jetzigen Situation um?
Schwer zu sagen, ich denke nicht darüber nach, wie ich damit umgehen sollte. Auch nicht, was in Zukunft sein wird. Man lebt einfach so weiter. Was kann man auch tun? Wir haben uns auch vorher nie viele Gedanken um die Zukunft gemacht. Ich war schon einmal in Westeuropa und weiß, dass es bei euch anders ist. Ich kann erahnen, was eure Stabilität bedeutet, aber wir sind es anders gewohnt. Die Ukraine war nie wirklich stabil. Aber ich habe hier wirklich eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Der Krieg ist aber etwas ganz anderes, ein ganz anderes Leben. Wenn mir jemand gesagt hätte, es gibt einmal einen Bürgerkrieg bei uns, ich hätte geglaubt, dass derjenige verrückt ist.
Warum hat die Ukraine nie eine gewisse Stabilität erreicht, was würdest du sagen?
Das Land gehört denen, die Geld haben, den Reichen. Sie bestimmen die Politik. Und sie sind selten untereinander einig. Es gibt Gesetze, aber man kann sich freikaufen. Darum haben wir solche Verhältnisse. Das ist meine Meinung, und die allermeisten Leute hier werden wohl dasselbe sagen. In meiner Stadt wurde seit 1991 kein neues Gebäude gebaut und fast nichts renoviert. Die öffentlichen Gelder verschwinden einfach in den Taschen von Leuten, die sowieso schon Geld haben, jedes Kind weiß das. Ich bin ja Lehrer und kann sagen, dass die Schulen in extrem schlechtem Zustand sind. Ich weiß, dass man bei euch solche Bedingungen niemals tolerieren würde, ich habe Schulgebäude in Westeuropa gesehen und war schockiert, wie großartig alles ausgestattet ist. Wir unterrichten unsere Kinder im Winter bei fünf bis sechs Grad Celsius, da die Stadt kein Geld hat, die Räume richtig zu heizen. Alle müssen die dicken Jacken und Mützen anbehalten, anders geht es nicht. Das Abitur konnte wegen des Krieges nicht abgelegt werden, die Schüler mussten für die Prüfungen in ein anderes Gebiet.
Wird der Konflikt in der Schule, unter Kollegen oder im Unterricht thematisiert?
Nein, wir vermeiden das. Meine eigenen Schüler sind ja auch noch nicht so alt. Ich habe genug von der Politik, muss ich sagen. Ich sehe auch kaum noch Nachrichten im Fernsehen, weder ukrainische, noch russische Nachrichten. Die russischen Sender können wir ja nicht mehr empfangen. Aber auch im Internet informiere ich mich nicht mehr, das bringt nichts Gutes.
Warum?
Alle lügen. Es wird erzählt, was man erzählen möchte.
Wie Geiseln im eigenen Land
Würdest du sagen, dass eine Seite in diesem Konflikt mehr im Recht ist als die andere?
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Du musst verstehen, dass ich nicht ganz offen darüber sprechen möchte, auch wenn meine Antworten nicht in der Ukraine, sondern in Deutschland veröffentlicht werden. Plötzlich hieß es von der neuen Regierung, dass eine Anti-Terror-Operation gestartet wird. Das hat hier niemand verstanden, soviel kann ich sagen. Auf keiner Seite kämpfen Heilige. Es sind viele schlimme Dinge passiert. Leute sind verschwunden und nicht wieder aufgetaucht, niemand weiß, wo sie sind. Ein Priester aus der Stadt, den ich vom Sehen her kannte, wurde im letzen Jahr erschossen. Ich erwähne das nicht, weil er vom Moskauer Patriachat war, ich will nur sagen, dass wir jetzt alle in einer Situation sind, die nicht menschlich ist. Auch wenn zurzeit in meiner Stadt nicht gekämpft wird, der Krieg ist dennoch überall zu spüren. Man geht ins Stadtzentrum oder zum Markt und überall begegnen einem Angehörige der Armee mit Maschinengewehr. Diese Leute kommen aus anderen Teilen der Ukraine. Es ist unmöglich, auf der Straße seine eigene Meinung zu sagen.
Es hieß, man wolle auch im Osten der Ukraine Männer einberufen. Hast du nicht Angst, in die Armee eingezogen zu werden?
Weil ich Asthma habe, musste ich nach dem Studium nicht zur Armee und werde auch jetzt nicht einberufen. Männer hier aus der Stadt sind eingezogen worden, obwohl sie natürlich nicht kämpfen wollen. Wir sind wie Geiseln im eigenen Land. Wer kann, geht nach Russland oder nach Europa.
Lieber Sergej, vielen Dank für das Interview.
Aus dem Englischen übersetzt
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