„Euthanasie“: Der Tod, entschieden durch den eigenen freien Willen oder durch schmerzlindernde Medikamente. Diese Wortbedeutung wurde zur Zeit des Nationalsozialismusʾ allerdings drastisch umgedeutet und in Verbindung mit der sogenannten „Rassenhygiene“ verwendet und durchgeführt. Im Rahmen der „NS-Euthanasie“ wurden Menschen mit Behinderungen, mit psychologischen und neurologischen Erkrankungen oder sehr kranke und alte Menschen, wie beispielsweise KZ-Häftlinge als „lebensunwerte“ und „arbeitsunfähige“ Menschen betitelt und auf Basis der „NS-Rassenideologie“ umgebracht.
Auslöser, Organisation und Beginn der „Aktionen“
Der Planungszeitraum der „Euthanasie-Aktionen“ ist in der Wissenschaft stark umstritten – als Auslöser werden unterschiedliche Thesen angeführt. Eine davon ist diese, dass Hitler im Frühjahr 1939 ein Brief erreicht haben soll, in welchem er von einem Vater gebeten wurde, sein behindertes Kind zu töten. Ob dies allerdings als „der Auslöser“ für den Beginn der „Euthanasie“-Morde zu betrachten ist, ist nicht einschlägig bewiesen. Mit der Gründung des “Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden” erhielt die „Euthanasie“ im „rassehygienischen“ Sinne ihre „Legitimation“. Dieser diente der Tarnung und „Unantastbarkeit“ des NS-Systems für die Morde. Die „NS-Euthanasie“ wurde in zwei Phasen eingeteilt. Die erste Phase fand zentral organisiert aus Berlin statt; die zweite Phase fand aufgrund stärkerer Geheimhaltung „dezentral“ und schwieriger nachverfolgbar statt.
Mit dem Beschluss der „Kinder-Euthanasie“ vom 18. August 1939 begann die Meldung von Kleinkindern und Säuglingen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung; zuerst Kinder bis drei Jahre, später auch Jugendliche bis 16 Jahre. Wenige Monate später folgte der Erlass, der besagte, dass von nun an auch erwachsene Patienten gemeldet werden müssten. Zudem beschränkten sich die Morde nicht nur auf die Grenzen des Deutschen Reichs, sondern auch darüber hinaus wurden in den deutsch-besetzten Gebieten oder von Kollaborateuren „Euthanasie“-Morde durchgeführt. Beispiele für „Euthanasie“ in deutsch-besetzten Gebieten sind Böhmen und Mähren, das Sudetenland, Polen, die Niederlande sowie die Ukraine und das Baltikum. Das „Vichy-System“ in Frankreich ergibt sich als Beispiel für einen deutschen Kollaborateur zur Zeit des Nationalsozialismusʾ; auch hier wurde „Euthanasie“ im Sinne des NS betrieben.
Im Rahmen der „Euthanasie“ im nationalsozialistischen Deutschland gab es drei zentrale „Aktionen: die wohl am ehesten Bekannte ist die „Aktion T4“. Weitere sind die „Aktion 14f13“, sowie die „Aktion Brandt“. Die „Aktion 14f13“ bedeutete die Massentötung von Häftlingen in Konzentrationslagern, welche als „krank“ und „alt“ und daher nicht mehr „arbeitsfähig“ galten; daher wird die „Aktion“ auch als „Häftlings-Euthanasie“ bezeichnet. Der Tarnname setzte sich aus folgenden Aktenzeichen zusammen; 14f stand für „Todesfälle im KZ“, 13 für „Vergasung“. Diese „Aktion wurde im Zeitraum von 1941 bis 1943 in zwei Phasen durchgeführt. Die erste Phase von 1941 bis 1943 kostete schätzungsweise 15.000 bis 20.000 Menschen das Leben; die zweite Phase ab April 1944 betraf nun ein „vereinfachtes Selektionsverfahren“. Stark geschwächte Häftlinge wurden nun in den Konzentrationslagern Mauthausen und Gusen in Österreich ermordet. Die Anzahl der Toten aus der zweiten Phase lässt sich nicht mehr genau bestimmen.
Die „Aktion T4“ im Spiegel der NS-Geschichte
Die „Aktion T4“, benannt nach der Adresse der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstalten“ in der Berliner Tiergartenstraße 4, war die erste „Aktion“ der Nationalsozialisten gegen Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung. In dem „Ermächtigungsschreiben“ Hitlers, Bouhlers und Brandts galt es nun, nicht nur gegen den „äußeren Feind“, sondern auch gegen den „inneren Feind“ vorzugehen. Interessant ist allerdings, dass es in diesem Fall keine „offizielle Legalisierung“ durch das „Reichsgesetzblatt“ oder durch ein allgemeines Gesetz gab. Dies beteuert die Tarnung des NS-Systems und die Befürchtung, die „Aktionen“ könnten durch die Alliierten-Presse aufgegriffen werden.
Die Entscheidung über Tod oder Leben der Patienten trafen sogenannte „T4-Gutachter“ – Ärzte, die zu Beginn ihrer Berufstätigkeit einen hippokratischen Eid geleistet und sich somit verpflichtet hatten, den Patienten zu respektieren und zu würdigen und dessen höchstes Anliegen die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Patienten ist. Erfasst wurden die Patienten mithilfe von Meldebögen. 200.000 Patienten wurden erfasst, rund 70.000 in den sechs „Tötungsanstalten“ getötet; diese waren in Brandenburg a.d. Havel, Grafeneck, Bernburg, Pirna, Hartheim a.d. Donau und in Hadamar.
Vor Beginn der „Aktion T4“ konnten die Machenschaften noch überwiegend geheim gehalten werden, doch mit Beginn der steigenden Mordzahlen verbreiteten sich Gerüchte. Zunächst beschränkte sich das Wissen auf die Patienten sowie Mitarbeitende von medizinischen Bereichen, Verwaltung und Anwohner rund um die Tötungsanstalten. Angehörige von Patienten erfuhren meist als Nächste von den Morden beziehungsweise schürten Zweifel an dem „natürlichen“ Tod des Familienmitglieds. Die Reaktionen von Angehörigen fielen meist sehr unterschiedlich aus; von Erleichterung über die „Erlösung“ des Patienten von seinen „Leiden“ oder die „Erlösung“ seiner selbst von einer „Last“ bis hin zu aktiven „Rettungs“-Interventionen seitens der Angehörigen gab es einige.
Stimmen gegen die „Euthanasie“-Morde
Mitwissend über die „Euthanasie“-Morde im Nationalsozialismus war unter anderem auch die katholische Kirche. Durch das „Reichskonkordat“ vom 20. Juli 1933, das der Kirche innere Autonomie und ungehinderte Verbreitung ihrer Schriften gewährte, war sie weitestgehend „frei“ in ihren Handlungen. Die evangelische Kirche hingegen wurde oft durch die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, welche eine nach dem „Führerprinzip“ geregelte Bewegung darstellte, zu Propagandazwecken benutzt. Seitens der Bevölkerung gab es, aufgrund der zuvor genannten Einstellungen gegenüber dieser Menschengruppen, kaum Widerstand. Sie bezeichneten die Morde zwar als „humanitären Bruch“, sahen sich aber nicht in der Plicht, sich aufgrund dessen vom NS-System zu distanzieren.
Im August 1941 erfuhr die „NS-Euthanasie“ eine „Wendung“. In einer Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen wurden die „Euthanasie“-Morde öffentlich benannt. Von Galen entgegnete den Morden mit dem heiligen Gottesgebot „Du sollst nicht töten“ sowie mit weiteren Fakten und Gesetzen, welche die Verwerflichkeit der „Euthanasie“-Morde verdeutlichten. Die Predigt sorgte für erhebliche Aufruhr und sogar dafür, dass das NS-Regime die „Aktion T4“ zunächst einstellte – sogar bis in die besetzten Gebiete und Alliierten-Gebiete drang die Nachricht der Predigt. Außerdem fand von Galen nach seiner Predigt immer mehr Unterstützung und seine kritischen Briefe wurden weiter verbreitet. Im darauffolgenden Jahr fand die „NS-Euthanasie“ im dezentral-organisierten Rahmen statt. Seitens der Nationalsozialisten wurde also eindeutig bemerkt, dass sie noch geheimer „verfahren“ mussten als zuvor. Innerhalb der „NS-Führung“ wurde zudem über eine „Strafe“ von Galens diskutiert. Im Raum standen Strafen von Verhaftung bis hin zur Hinrichtung – allerdings erst nach dem geplanten „Endsieg“.
Seitens der Patienten in den „Heil- und Pflegeanstalten“ gab es zum Teil auch Handlungen des Widerwillens, was implizierte, dass sie wussten, dass nichts Gutes mit ihnen geschah. Manche versuchten, sich zu verstecken, weinten, schrien vor Verzweiflung oder versuchten, sich gegenseitig zu beruhigen. Mit den Worten einer Patientin, dessen Name aus der Aufzeichnung nicht ersichtlich ist, kann die Situation der Patienten sehr gut verdeutlicht werden: „Wir sterben ja, aber den Hitler holt der Teufel.“
„Aktion Brandt“ – Töten nach „Bedarf“
Menschen mit Behinderung wurden durch geplante Mangelernährung, Überdosierung von Medikamenten oder Vernachlässigung getötet – die „Aktion Brandt“ war demnach nicht mehr mit der Art der „Aktion T4“ oder „Aktion 14f13“ zu vergleichen. Die Aufruhr des vorangegangenen Jahres mit der Predigt von Galens sorgte für diese Art des „geplant unnachvollziehbaren“ Vorgehens der Nationalsozialisten.
Die „Aktion Brandt“ war Teil der „dezentral geplanten“ Phase der „NS-Euthanasie“, sprich sie wurde nicht mehr aus Berlin, wie die „Aktion T4“, organisiert, sondern überwiegend von Länder- und Provinzialverwaltungen übernommen. Benannt war sie nach dem Begleitarzt Hitlers, Karl Brandt, der, gemeinsam mit dem Chef der „Reichskanzlei“ Hitlers, Philipp Bouhler, mit der Planung der „Euthanasie-Aktionen“ beauftragt wurde. Die „Aktion Brandt“ begann im Jahr 1942. Auf strukturelle Aspekte, wie bei der „Aktion T4“ wurde weiterhin zurückgegriffen; die Dezentralität berief sich hier ausschließlich auf den Ort.
Mit der ständigen Verlegung von Patienten, um vermeintlich “Platz” für verletzte Kriegsveteranen in den Krankenhäusern und Pflegeanstalten zu schaffen, wurde die Übersichtlichkeit für Außenstehende wie Angehörige zusätzlich erschwert. Die „Landesheilanstalt Hadamar“ im heutigen Hessen galt als zentraler Ort der „dezentralen Phase“ der „Euthanasie“-Morde – mehr als 4.400 Menschen wurden dort umgebracht. Eine genaue Opferzahle ist aufgrund der „Unübersichtlichkeit“ schwer, zu ermitteln.
Von Dresden bis Nürnberg – Ärzteprozesse in den Besatzungszonen Nachkriegsdeutschlands
Nach Kriegsende im Mai 1945 wurden in verschiedensten Ärzteprozessen, geführt von den jeweiligen Alliiertenländern in den Besatzungszonen, Täter und Täterinnen zur Verantwortung gezogen. Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern wurden für ihre Taten und ihr Mitwirken angeklagt. Neben dem durch das US-amerikanische Militärgericht geführte Nürnberger Ärzteprozess von Dezember 1946 bis August 1947 gab es unter anderem den Dresdner Ärzteprozess im Juni 1947. Dieser war neben dem Dresdner Juristenprozess von 1947 der bedeutendste Prozess der sowjetischen Besatzungszone. In diesem Prozess waren Mitarbeitende der Anstalten „Großschweidnitz“ und „Pirna-Sonnenstein“ angeklagt.
Von Besonderheit in diesem sowjetisch geführten Prozess war, dass nicht die Aufarbeitung des Verfahrens, sondern die Schuld der Angeklagten im Mittelpunkt stand. Die Unabhängigkeit der Richter konnte trotz äußerer Einflüsse der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) aufrechterhalten werden. Außerdem wurde zu dieser Zeit noch mit anderen staatlichen Grundsätzen verfahren als in der späteren „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR).
Im Verlauf der Nachkriegszeit wurden noch einige „Euthanasie“-Prozesse geführt. Neben den großen Prozessen in Nürnberg und Dresden gab es noch den Wiesbadener Prozess 1945 und die Frankfurter Prozesse zwischen 1946 und 1987, welche sich beide mit der „Tötungsanstalt“ in Hadamar beschäftigten. Der Grafeneck-Prozess 1948 in Freiburg richtete sich gegen Mitarbeitende der dortigen „Tötungsanstalt“. Der Düsseldorfer „Euthanasie“-Prozess 1948 wurde im Rahmen der Beteiligung der Angeklagten an der „Aktion T4“ geführt.
Unvergessen bleiben – Gedenken und Rezeption der „Euthanasie“-Morde
Die Rezeption und das Gedenken an die „Euthanasie“-Morde ist in der Forschung sehr präsent. Die Legung von Stolpersteinen, nicht nur für Opfer des Holocausts, sondern auch für „Euthanasie“-Opfer trägt im erheblichen Sinne zum Nachdenken und Gedenken bei. An der Berliner Tiergartenstraße 4 befindet sich ein Gedenkort mit Informationstafeln über die Zeit der „NS-Euthanasie“. Die Aufarbeitung im Sinne der Medizin-, Ethik- und Geschichtsforschung trägt ebenfalls zu breiterem Wissen und Interesse seitens der Gesellschaft bei.
Auch in der Public History wird das Thema aufgearbeitet – weniger aber im allgemeinen Sinne, sondern mehr im Hinblick auf spezielle Themenfelder der „NS-Euthanasie“. Beispiele hierfür sind die verschiedenen „Aktionen“, die Gerichtsverfahren der Nachkriegszeit oder die Beschäftigung mit dem Beginn der „Rassenhygiene“ durch die Ernennung Hitlers zum „Reichskanzler“.
Der Grund, weshalb die Public History im Hinblick auf solche Themen eine besonders große Rolle spielt, ist die Tatsache, dass sie sich am „nächsten“ an der Gesellschaft bewegt. Die Wissenschaft arbeitet zwar ebenfalls für die Aufklärung der Gesellschaft, doch ein Fachbuch wird seltener „konsumiert“ als ein Beitrag, der im Internet kostenlos zugänglich ist. Ein Vortrag, bei welchem die Teilnahme ohne Eintritt erfolgt, ist besser besucht als ein Vortrag mit Eintritt – unabhängig von Themenfeld und Vortragendem. Die Public History versucht demnach, den größtmöglichen Teil der Bevölkerung für Geschichte zu interessieren und gemeinsam mit ihnen für Aufklärung zu sorgen.
Fortführende Literatur
- Bruns, Florian: Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939-1945). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009.
- Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1983.
- Noack, Thorsten: „NS-Euthanasie“ und die internationale Öffentlichkeit. Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg. Verlag Campus, Frankfurt am Main 2017.
- Osterloh, Jörg/Schulte, Jan Erik (Hrsg.): „Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten. Verlag Brill ׀ Schöningh, Paderborn 2021.
- Osterloh, Jörg/Schulte, Jan Erik/Steinbacher, Sybille (Hrsg.): „Euthanasie“-Verbrechen im besetzten Europa. Zur Dimension des nationalsozialistischen Massenmords. Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
- Vellguth, Klaus: „Aktion T4“ – Mord mit System. Das „NS-Euthanasieprogramm“ und die Geschichte eines Opfers. Topos Verlagsgemeinschaft, Kevelaer 2014.
Fortführende Hinweise
- https://www.firstlife.de/kaempfer-gegen-die-nazis-zum-70-todestag-kardinal-von-galens/
- Beitrag zum 70. Todestag Kardinal von Galens
- https://stolpersteine.wdr.de/web/de/
- Verzeichnis der in Nordrhein-Westfalen verlegten Stolpersteine
- https://www.gedenkstaette-hadamar.de/
- Website der Gedenkstätte Hadamar
- http://www.gedenkstaette-grafeneck.de/startseite.html
- Website der Gedenkstätte Grafeneck
- https://gedenkstaette-bernburg.sachsen-anhalt.de/
- Website der Gedenkstätte Bernburg
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