Die Weltmedien leben von Krisenerzählungen und auch die Soziologie versteht es, die Gesellschaft in die Krise zu reden. Das Angebot ist also groß, eine wichtige Nachfrage bleibt aber unbeantwortet.
Bewusster, nachhaltiger Konsum ist ein Modebegriff und längst schon wieder durch den Kapitalismus kommerziell nutzbar gemacht. Dennoch lässt sich trefflich über die Macht des individuellen Konsums streiten. Am Beispiel einer Avocado lässt sich die Problematik gut veranschaulichen: Während diese Frucht auf der einen Seite als Superfood, hippes Lifestyleprodukt gilt und sich auch geschmacklich großer Beliebtheit erfreut, weiß jeder wohl informierte Bürger, dass er hier im Supermarkt zumindest nicht ohne schlechtes Gewissen zugreifen darf. Schon höre ich die Stimme meines sozialen Umfelds: „Ja gut, aber was soll man dann überhaupt noch kaufen?“ Welche Informationen muss man nun so einem Kunden überhaupt geben, um seinen Konsum an nachgewiesene, gesamtgesellschaftliche Probleme anpassen zu können?
Wie “gut” ist das, was Du kaufst, denn wirklich?
Wie wäre es mit einer Angabe zum verursachten CO2? Der Klimawandel ist schließlich wirklich ein Problem, das man in seinem Alltagshandeln berücksichtigen sollte. Eine weitere Angabe zu Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Bauern und eine Ernährungsampel darf auch nicht fehlen, Biosiegel genauso wenig (hier gilt für die meisten Konsumenten, je mehr desto besser). Eine Angabe zum Wasserverbrauch wäre gerade bei Avocados angebracht und eine Angabe zum Einsatz von Gentechnik genauso. Wie wäre es weiterhin mit einer Bewertung der demokratischen Verhältnisse in dem Ursprungsland und der Rechtmäßigkeit des Landbesitzes (s. EuGH-Urteil zur Kennzeichnung von Produkten aus israelischem Siedlungsgebiet)? Der Anteil der Frauen im Betrieb, die Menge an Verpackungsmaterial und der korrekte kulturelle Kontext des Produktes könnten dem Kunden genauso bei seiner Entscheidung helfen, wie auch konkrete Serviervorschläge für frische Lebensmittel. Es sollte klar sein, dass eine Avocado für diese Datenmenge zu klein wäre und dass die zusätzlich aufgeklebten Plastiksticker für Umwelt und Kunden unverhältnismäßige Nachteile mit sich bringen würden.
Aber dennoch, rein hypothetisch, welche Entscheidung sollte ich dann aus den Informationen gewinnen? Denn auch hier ist dem naturalistischen Fehlschluss einer direkten Verbindung von Sein und Sollen nicht zu trauen. Entscheide ich mich beispielsweise dagegen, die Produkte von dem unterbezahlten, existenzgefährdeten Bauer zu kaufen oder kaufe ich eben gerade diese? Integriere ich die bildungsschwächere Milieus wirklich, indem Bilder von Serviervorschlägen beispielsweise einer Avocado dazugeben werden oder schreckt man diese gerade dadurch ab? Wird kulturelle Aneignung weniger zum Problem, wenn das Balkangemüse mit einem Text eines Ethnologen zur Kulturgeschichte dieser Gemüsemischung verkauft wird?
Wer gibt die mediale Richtung vor?
Schon dieser Einstieg anhand einer Avocado, wo doch eigentlich über Hauptprobleme der Gesellschaft geredet werden sollte, zeigt, dass uns das Gefühl für ein Hauptproblem irgendwie abhandengekommen sein muss. Das Ende der großen Erzählungen war zwar nicht das Ende der Geschichte, aber das Ende der großen Krise. Wenn Adorno und Horkheimer noch ganz klar ein Problem für ihre Zeit ausmachen konnten, fällt das heute den Intellektuellen zusehends schwerer. Bei der Frankfurter Schule war es immer ganz klar: Entweder war es der konkrete Faschismus oder eben seine Potentialität und Aufarbeitung, die das Hauptproblem der Gesellschaft darstellten.
Diese Krisendiagnose verbanden sie dann mit einer Vielzahl anderer kleinerer Krisen, die aber letztlich alle entweder vom Faschismus kamen oder zu ihm hinführten. Die Konzepte von Kulturindustrie, kapitalistischer Produktionsverhältnisse und Entfremdung erhielten immer ihr Krisenmoment erst durch die Mediation des Faschismus. Während diese Denker also auch konstant über ein Intellektuellenleben hinweg diese eine Fahne vor sich hertragen konnten, müssen heutige Intellektuelle alle paar Jahre eine neue Flaschenpost an die Gesellschaft adressieren. Das Ende der großen Krise war auch das Ende der großen Intellektuellen. Geblieben sind wesentlich Medienintellektuelle, die der Volatilität der Gesellschaft eher folgen, anstatt sich zu bemühen, dass die Gesellschaft eben ihrer Standhaftigkeit folgt. Diese Medienintellektuellen verlieren damit vor allem außerhalb ihres Heimspielfeldes einer globalen geistigen Elite ihre Prägekraft und das vermutlich, weil sie denkend nicht mehr in der Sache selbst sind, sondern immer schon darüber hinaus.
Welche Denküberzeugungen sind anschlussfähig für ein breites Publikum?
Die zeitliche Konstanz von Krisen und ihrer Selbstbeschreibung ist durch die Dynamisierung der Krisenverhältnisse nicht mehr gegeben. Die Aufmerksamkeitsökonomie, getrieben von Massenmedien, verengt den Blick für kurze Zeitabschnitte auf ein immer wieder neues Hauptproblem. Sei es die Umweltsau, der Dieselskandal oder das Coronavirus. Die öffentliche Meinungsbildung läuft dabei den Themen hinterher wie der Hase der Schildkröte, immer wenn sie an dem Punkt ankommt, wo sie eben noch das Problem gesehen hat, ist das Licht der großen Kulturprobleme schon wieder weitergezogen. Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit schlägt in allen Lagern zu.
Linke müssen sich nun fragen: Kritisieren wir den Kapitalismus im Silicon Valley, der vielleicht auch unsere Zukunft sein wird, oder den Kapitalismus in deutschen Stahlhütten und Kohleminen? Die rechte Kritik weiß noch nicht mal mehr, ob das, woran sie sich festhält, noch anschlussfähig ist an die heutigen intellektuellen Debatten. Wenn sie beispielsweise noch die Familie mit festen Rollen als Hort der Menschwerdung verteidigen will, wirkt das in bestimmten Fachwissenschaften so antiquiert, dass diese Position noch nicht einmal mehr der Diskussion würdig scheint. Die Probleme würden an ganz anderer Stelle zu finden sein, ist sich ein jeder sicher. Doch sollte sich niemand der eigenen moralischen Reinheit allzu bewusst sein, wenn er mit großen Gesten das Fehlverhalten seiner Mitmenschen kritisiert.
Horkheimer und Adorno dachten auch zumindest in ihrem Handeln etwas Richtiges im Falschen darzustellen, doch Sexismus-, Rassismus- und Konservatismusvorwürfe prasseln heute auf diese Denker ein. Der Problemfokus überholt immer seine alten geistigen Führer und so kann sich auch heute niemand sicher sein, welche seiner Handlungen in nur einigen Jahren als nicht zu entschuldigendes Fehlverhalten angesehen wird. Du besitzt auf tote Bäume (ein Lebewesen!!!) gedruckten Text? Du sprichst in einer Nationalsprache und nicht in einer integrierenden Globalsprache? Du hast dein Sexualverhalten engstirnig nur auf einen Partner beschränkt und somit das natürliche Glück der polyamorösen Beziehungen gesellschaftlich unterdrückt? Wer weiß…
Auch Intellektuelle drehen sich ständig im Kreis
Das Fach der Soziologie gibt von dieser Pluralisierung der Krise nur allzu offen Kunde. Allein die schiere Anzahl an Veröffentlichungen, die der Gesellschaft dieses oder jenes Problem attestieren und dabei selbst im eigenen Verlag schon von der nächsten Diagnose belagert werden, zeigt, wie die Moderne mit der Dauerhaftigkeit der Krise in unendlicher Reflexion im Spiegelkabinett ringt. Wenn die Gesellschaft ein kranker Mensch wäre, er bräuchte eine gute Krankenversicherung bei so vielen Ärzten. Jeder von ihnen glaubt zudem, die anderen würden sich nur mit den Symptomen beschäftigen, während er selbst die Ursache, das Wesen, den Kern des Problems ausgemacht zu haben glaubt.
Aber natürlich ist das Fach der Soziologie ein Meister darin, gerade durch eine Reflexionsschleife ihre Schwächen zu Stärken zu verwandeln – aus Stigma Charisma werden zu lassen. Das Fach spiegelt damit nur in sich selbst die gesellschaftliche Entwicklung. Denn vielleicht hängt das alles wesentlich mit den neuen Grundgegebenheiten der Moderne zusammen, die in ihrem Differenzierungsprozess in sich geschlossene Systeme hervorgebracht hat, die ohne wechselseitige Hierarchie nur nebeneinander in unterschiedlichen Codes sich selbst bespielen. Gewohnt nüchtern attestiert die Systemtheorie somit die „Unregierbarkeit der Moderne“.
Dadurch, dass die gesamtgesellschaftliche Perspektive verloren gegangen sei, ist eben auch die gesamtgesellschaftliche Krise dem Beobachter aus dem Krähennest nicht mehr offenbar. Krisen differenzieren sich parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung und treten damit nur noch in der jeweiligen Perspektive und Sprache von Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst, Religion oder Wissenschaft auf. Wir sind eine Kultur ohne Zentrum – vor allem aber ohne Krisenzentrum. Und dabei darf man in der Weltgesellschaft natürlich nicht den Fehler begehen, hier an nationale Gruppierungen zu denken. Die Organisation CARE hat erst vor wenigen Tagen die Welt unter dem Titel „Suffering in Silence“ an 10 „vergessene Krisen“ erinnert. Die Weltgesellschaft erkennt Verantwortlichkeiten weit über atavistische Vorstellungen einer Nahethik hinaus an. Und auch das führt zur nächsten Krisendiagnose – der Externalisierungsgesellschaft.
Haben wir überhaupt noch tiefgreifende gesellschaftliche Probleme?
Heute bieten Krisendiagnosen dabei nur noch partielle Sinnangebote, die man ergreifen kann, aber nicht muss. Die Verbindlichkeit ihrer Handlungsaufforderungen sinkt und die Nichtbeachtung ist immer weniger der Gegenstand von Gewissenskonflikten, Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen. Gleichzeitig entwickelt sich der urbane Sozialtypus einer diversen Krisenelite, die eine spezielle Krise virtuos in Form einer Überidentifikation zur Grundlage des eigenen Lebensstils erhebt. Vegetarier kündigen dann die Freundschaft zu Fleischfressern, diesen wiederum wird die Freundschaft von Veganern gekündigt, diesen die selbige von Gourmets, die in all dem nur einen großen Kulturverfall sehen.
Und mittendrin wird dann von links, von rechts und aus der Mitte aus der sicheren Anonymität heraus nach einer neuen großen, alles vereinenden, bereinigenden und lebensspendenden Katastrophe gerufen, um dem jeweiligen politischen Angebot endlich den verloren gegangenen Wesenskern wiederzugeben. Allein der verzweifelte Anspruch einer jeden Krise, diese auch als Katastrophe zu benennen, um auszudrücken, dass es nun wirklich „ums Ganze“ gehe, zeigt dabei nur, wie selbst die Protagonisten dieser Bewegungen immer bereits die gesellschaftliche Aufmerksamkeitsspanne und ihre Dynamik mitdenken. Die Moderne hält Probleme in der Schwebe, lässt nur Vorläufigkeiten und keine Endgültigkeiten zu.
Das Hauptproblem unserer Zeit besteht also darin, dass wir kein Hauptproblem mehr haben. Der Verlust einer repräsentativen Kultur bedeutet auch den Verlust von repräsentativen Krisen. Auch im alltäglichen Gespräch sind diese dann nicht mehr anschlussfähig. Der eine will über den Abstiegskampf vom 1. FC Köln reden, der andere über Klimakrise und der dritte über sein Elend als marginalisierte Queer-Identität – aber keiner hat auch nur die grundlegende Fähigkeit sich auf das Gespräch des Gegenübers einzulassen. Und so haben sich völlig neue Formen der Mediation von Krisen ergeben und das nicht nur auf individuellem Niveau, sondern auch auf gesellschaftlichem. Die moderne Politik unterdrückt Proteste nicht mehr, sondern lässt sie sich einfach totlaufen; die moderne Finanzwirtschaft fürchtet sich nicht mehr vor Kursrutschen, sondern handelt mit ihnen; die moderne Kunst ziemt sich nicht mehr vor der Einfallslosigkeit, sondern macht diese zum Programm. Die Frage, ob sich die Dauerkrise institutionalisiert, lässt sich bejahen – aber nur, wenn man gleichzeitig den Mut besitzt, die Banalität jeder Krise zu bejahen. Die Moderne beherrscht nur wenig besser als den Umgang mit Krisen – das liegt vermutlich am Gewöhnungseffekt. Einzig bleibt: Wann kommt die Meta-Metakrisendiagnose zu dieser Meta-Krisendiagnose einer „Krisengesellschaft“?
[…] Quelle: f1rstlife […]