Die letzten Monate waren eine Zumutung für jeden, der Gesellschaft schätzt. Und egoistisch betrachtet hat es uns persönlich gar nicht so viel genutzt, zu Hause zu bleiben. Wir haben vielleicht den ein oder anderen Kilo durch Nascherei zugenommen, konnten unsere Familien nur über Videochat sehen, nicht in den Urlaub fahren. Wir fühlen uns in unserem Individualismus beschnitten. Aber oftmals vergessen wir, dass es Zeiten gibt, in denen wir uns hinter dem Gemeinwohl einordnen sollten.
Ich kenne niemanden, dem Corona dieses Jahr keinen dicken Strich durch die Pläne gezogen hat. Zwar haben einige introvertiert veranlagte Freunde berichtet, dass sich ihr Leben gar nicht so signifikant verändert hat, weil sie auch sonst selten ausgehen; aber der Mehrheit der Menschen fiel diese Zeit extrem schwer und allmählich wird das permanente zu Hause sein doch ein bisschen anstrengend. Es gibt zu wenig Abwehchslung, trotzdem das gleiche Pensum an Arbeit oder Unikram und ein scheinbar nicht endendes Fiasko an Aufräumaktionen.
Erst die Betroffenheit macht plötzlich sensibel
Vor Monaten schon wurden Stimmen laut, dass die Regelungen gelockert werden sollten und dass es den Großteil der Gesellschaft nicht betreffen würde. Die Menschen fühlen sich in ihren üblichen Freiheiten eingeschränkt und fordern diese zurück, indem sie Demonstrationen besuchen und sich teilweise bewusst den Kontaktbeschränkungen widersetzen, womöglich auch als Zeichen des Protests.
Aber hinter all den Einschränkungen, die wir in den letzten Monaten so schmerzlich erfahren mussten, darf man nicht nur eine hineininterpretierte Böswilligkeit oder sogar Verschwörung vermuten. Es gibt nicht viele Erkrankte aus der jüngeren Altersgruppe, aber es gibt sie. Und spätestens wenn Corona plötzlich in der eigenen Familie zur schrecklichen Realität wird, denkt man vielleicht darüber nach, wie es denjenigen geht, die als einzige unter Tausenden davon betroffen sind und vielleicht um ihr Leben kämpfen müssen. Ist es so schwer, zumindest einige Monate auf den engen Kontakt mit anderen Menschen zu verzichten? Ist es zu schwer, auf Restaurants und Mädelsabende zu verzichten?
Menschlichkeit nicht vergessen
Wir sind in einer Gesellschaft und einer sozialökonomischen Struktur großgeworden, in der wir vergleichsweise sehr viele Privilegien genießen. Wir sind es auch gewohnt, dass wir wenn nicht alles, dann doch zumindest das Meiste, was wir wollen zu bekommen. Manchmal frage ich mich, ob diese Wohlstandgesellschaft nicht sogar zu noch mehr Egoismus führt, weil wir uns mit anderen nicht mehr verstehen müssen. Wir können unseren Nachbarn das Leben schwermachen, wir müssen nicht mehr der älteren Frau mit den Einkäufen helfen. Aber wir SOLLTEN.
Tief in uns wissen wir, dass eine Konsum- und Wohlstandsgesellschaft uns immer einsamer werden lässt. Wir haben angefangen, Menschen zu benutzen und nicht Gegenstände. Und wir haben angefangen, Gegenstände zu lieben, statt Menschen. Es fällt uns dadurch immer schwerer, Empathie für andere zu zeigen und ihnen die Fürsorge zukommen zu lassen, die wir uns auch selber wünschen würden. Es fällt uns schwer, den ersten Schritt zu machen, und zu zeigen, dass wir auch geben können, anstatt nur immer zu konsumieren.
Wer nur an sich denkt, schadet anderen trotzdem
Corona zeigt uns auch nur zu deutlich, welche traurige Wendung unsere Gesellschaft genommen hat. Wir sind nicht bereit, das Wohlergehen von Risikogruppen und Minderheiten über unseren Individualismus und Egoismus zu stellen. Noch nicht einmal, um sie womöglich vor dem Tod zu schützen. Wir sollten uns vor Augen führen, wie wir uns als älterer Mensch fühlen würden, der sich bei jemandem angesteckt hat, der unbedingt auf eine Corona-Party gehen musste. Es mag sein, dass es für uns selber ungefährlich ist und wir die ganzen Sicherheitsmaßnahmen als übertrieben darstellen. Aber wie könnte jeder Einzelne damit umgehen, dass er vielleicht ein Menschenleben auf dem Gewissen hat?
Nichts anderes ist es, wenn wir uns bewusst machen, dass es Gruppen gibt, für die das Virus eine große Gefahr darstellt. Und wie kann es sein, dass wir unsere Hobbys oder Freizeitaktivitäten über ein Menschenleben stellen? Es sollte doch unsere oberste Priorität sein, die Menschen um uns herum zu schützen, oder sie zumindest nicht unnötig Gefahren auszusetzen. Es ist beinahe beängstigend, wie sehr wir es zur Gewohnheit haben werden lassen, nur an uns und das Wohl unserer Familien und Freunde zu denken. Es ist noch beängstigender, dass es in einer derzeitigen Situation soweit kommen muss, dass vom Staat Kontaktbeschränkungen erfolgen mussten. Mit weniger Egoismus wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen, dass komplette Altenheime infiziert waren und zahlreiche ältere Menschen sterben mussten.
Schreibe einen Kommentar