„Lasset die Kinder zu mir kommen.“ – diese kleinen, aber unglaublich bedeutenden Worte Jesu sind für mich wohl mit die schönsten Worte der gesamten Bibel. Wie recht Jesus doch hatte! Aufopferungsvoll nimmt er sich Zeit für die Kleinsten, lacht mit ihnen und ist einfach nur glücklich. Auch ich durfte vor kurzer Zeit wertvolle Erfahrungen mit Kindern unterschiedlichster Herkunft, Kindheit und familiärer Situation auf einer mehrwöchigen Kinderfreizeit machen und habe dadurch viel gelernt.
Die Anfänge und die Vorbereitung
Als ich vor einigen Monaten eine Zeitungsanzeige der Caritas entdeckte, die nach Betreuern für eine dreiwöchige Kindererholung in den Bergen suchte, ahnte ich noch nicht, dass dies der Beginn einer unglaublich bereichernden, wertvollen und facettenreichen Zeit sein würde. Gesucht wurde nach jungen motivierten Menschen, die gerne mit Kindern arbeiten und neue Erfahrungen im sozialpädagogischen Bereich machen wollen – die perfekte Möglichkeit, um bereits praktische Erfahrungen im Hinblick auf mein anstehendes Lehramtsstudium zu sammeln…
Gesagt, getan. Nachdem meine Bewerbung angenommen wurde, kam direkt eine Einladung zum Schulungswochenende. Während dieser intensiven Vorbereitung wurde mir zum ersten Mal bewusst, was da ungefähr auf mich zukommen würde. Ich würde nicht nur plötzlich eine immense Verantwortung übernehmen, sondern auch maßgeblich an der Entwicklung vieler Kinder und Jugendlicher teilhaben, für die diese dreiwöchige Freizeit den Lichtblick im gesamten Jahr darstellt!
Zudem erfuhr ich, dass all diese Kinder aus sozial schwachen Familien kommen, von einer schwierigen und harten Kindheit geprägt sind, mit psychischen Problemen zu kämpfen haben oder sogar Opfer von Gewalt und Missbrauch sind. Jedes dieser Kinder hat sein eigenes, individuelles Päckchen zu tragen – dieses muss man als Betreuer berücksichtigen und als Leitfaden für den individuellen Umgang mit jeder einzelnen zerbrechlichen Kinderseele nehmen – denn plötzlich wird man selbst zum Vorbild, zur Vertrauensperson, zum Wegweiser.
Endlich war es soweit!
Anfang August ist es dann soweit: Voller Vorfreude stehe ich mit meinem Koffer im Zug und warte, bis ich endlich ankomme und meine Kinder sehen kann. Mir wurden fünf Mädchen im Alter von 12 – 13 anvertraut, die alle aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Für sie ist die Kindererholung die Chance, endlich einmal frische Luft zu schnuppern: Einerseits gesundheitlich, andererseits aber auch durch den gewonnenen Abstand zu den Sorgen des Alltags.
Kurze Zeit später finde ich mich im Chaos wieder: Ein Gewusel aus Kindern, Koffern, besorgten Eltern und überforderten Betreuern – der Spaß kann losgehen! Im Bus sehe ich dann endlich das erste Mal „meine“ fünf Mädels. Zunächst bin ich noch ein wenig unsicher, wie ich mit ihnen ins Gespräch kommen kann, was mich so alles erwartet und ob ich dieser Aufgabe überhaupt gewachsen bin – doch die anfängliche Unsicherheit weicht schnell einem tiefen Glücksgefühl. Ich merke, dass wir sofort einen Draht zueinander haben und uns bereits über alles unterhalten könnten. Lektion Eins, die ich von den Kindern gelernt habe: Man wird so angenommen, wie man ist – mit all seinen Ecken und Kanten.
Jeder Tag ist ein Geschenk
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug: Ankommen, einleben, kennenlernen. Noch nie bin ich abends so erschöpft, aber auch erfüllt und glücklich ins Bett gefallen. Und jeden Morgen öffnen sich mir wieder neue, unvorstellbare Welten. Bereits nach kurzer Zeit umarmen mich die ersten Kinder, obwohl ich nichts Besonderes getan habe! Schnell wird mir bewusst, dass ihnen vor allem eines fehlt: Liebe und Zuneigung. Auch erfahre ich die unterschiedlichen Geschichten der Kinder, von ihrem Leben zuhause und von ihren Ängsten.
Das Schicksal eines Mädchens berührt mich besonders
Ein Mädchen aus meiner Gruppe tut sich sehr schwer, etwas aus ihrem Leben preiszugeben. Doch eines Tages bricht sie während eines Gemeinschaftsspiels plötzlich in Tränen aus. Nach und nach erfahre ich von ihr, wie es daheim bei ihr zugeht. Nachts kann sie nicht schlafen, weil sie die Schläge ihres Vaters und die Schreie ihrer Mutter wachhalten. Sie freut sich mehr auf die Schule als auf ihre Familie, auch wenn sie dort gemobbt wird. Sie leidet an Albträumen, Halluzinationen, ist traumatisiert und aggressiv. Und ich? Einfach nur geschockt.
Mir wird buchstäblich der Boden unter den Füßen weggerissen. Ob es pädagogisch richtig ist, weiß ich nicht, aber nach kurzer Zeit muss ich einfach mitweinen. Hier helfen keine tröstenden Worte mehr, auch kein gutes Zureden. Die grausame Realität dieses schutzlosen, unschuldigen Mädchens macht mich fassungslos. Wie kann es sein, dass ich selbst so eine schöne, behütete Kindheit hatte, während dieses Mädchen unter so schrecklichen Bedingungen leben muss?
Die verborgenen Wünsche und Talente der Kinder
Doch neben all den leidvollen Erlebnissen, von denen mir die Kinder berichten und deren Konsequenzen ich selbst auch in den Handlungen der Kinder zu spüren bekomme, sind die Tage erfüllt von purer Lebensfreude, Liebe und Glück. Wir unternehmen mit den Kindern unzählige Wanderungen in schönster Natur, spielen zusammen Ball, springen Trampolin, schaukeln, basteln, singen und lachen. Schon nach kurzer Zeit merken wir Betreuer, wie sehr die Kinder aufblühen, wie fröhlich sie plötzlich sind und wie sie endlich loslassen können von ihrer oft schweren, grauen Vergangenheit. Ich erlebe unglaublich viele berührende, herzergreifende Momente, die man kaum in Worte fassen kann.
So entdecke ich bei einem schüchternen, von ihrem Umfeld kaum akzeptierten Mädchen ihr Sprinttalent und liefere mir mit ihr unzählige Wettrennen. Mit einem anfangs aggressiven, schwierigen Jungen spiele ich Karten und komme so unverhofft dazu, mit ihm tiefgründige, umwälzende Gespräche zu führen. Abends traue ich mich sogar nach einiger Zeit, meinen Mädels den Roman „Momo“ vorzulesen, die so – wer hätte das gedacht? – jeden Tag schnell einschlafen und mich vor allem ständig bitten, doch möglichst bald weiterzulesen, da es so spannend sei! Und sogar meine anfangs scheinbar aussichtlosen Versuche, den Kindern Tischmanieren beizubringen, enden schließlich darin, dass sich die Kinder gegenseitig auffordern, „den Ellbogen doch bitte vom Tisch“ zu nehmen.
Vor allem die ungezwungene Zeit, die ich mit den Kindern und den anderen Betreuern in der Natur verbringen durfte, zählt wohl zu einer der schönsten Abschnitte in meinem Leben. Gerade das Leuchten in den Kinderaugen, die vielen Umarmungen und Liebesbezeugungen, die Unbeschwertheit und das viele Lachen zeigt einem immer wieder, dass es der Schlafmangel, die Vorbereitung und der Kummer, den einem das ein oder andere Kind bereitet hat, definitiv wert war und, dass es nichts Schöneres, Wertvolleres gibt, als „die Kinder zu [einem] kommen“ zu lassen.
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