Von Mexiko, dem wirtschaftlich stärksten Land Mittelamerikas, wird in den deutschen Medien zumeist nur von unvorstellbaren Gewalt des Drogenkrieges berichtet, der ein ganzes Land zu terrorisieren scheint. Doch neben den schrecklichen Bildern von Einschüchterung, Folter und Tod ist ein erstaunlich ruhiger Alltag der meisten Mexikaner zu beobachten, in denen die Konflikte nur eine marginale Rolle einnehmen. In den umkämpften Regionen gehen manche Kinder wie selbstverständlich auf dem Weg zur Schule an Leichen im Straßengraben vorbei. Mit dem Beispiel Finnlands kann man belegen, dass wirtschaftliche und politische Notlagen Chancen bieten, sich mithilfe von Bildungsinvestitionen langfristig aus seiner Krise herauszumanövrieren. Und auch die mexikanische Regierung scheint verstanden zu haben, wie wichtig die Rolle von Bildung für die gesunde wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes ist.
Bildungsinvestitionen sind nicht das, was sie scheinen
Deswegen investiert sie 20,6 Prozent des gesamten Staatshaushalts in Bildung, mehr als doppelt so viel wie Deutschland. Außerdem werden 5,3 Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgegeben, damit ist der prozentuale Anteil der Ausgaben nicht nur höher als der deutsche, sondern liegt damit sogar über dem Stand der „PISA-Hochburg“ Kanada. Mit diesen Ausgaben könnten wir Deutschland in eine richtige Bildungsrepublik verwandeln. Aber wieso belegt Mexiko bei fast allen internationalen Bildungsvergleichen den letzten Platz?
Zuallererst muss man diese Zahl relativieren, denn es gibt zwei Faktoren, die das Ganze um einiges weniger glanzvoll erscheinen lassen: Zum einen ist sowohl der Haushalt, als auch das Bruttoinlandsprodukt Mexikos kleiner als deren deutsche Äquivalente. Und zum anderen hat sich der mexikanische Staat um etwa 34 Millionen Schüler und Studenten zu kümmern, während es in Deutschland nur rund 13 Millionen Schüler und Studenten gibt. Mexiko gibt durchschnittlich 2.800 Euro pro Jahr für einen Schüler oder Studenten aus; Deutschlands Kosten liegen da mit 9.300 Euro um einiges höher. Liegt also der Fehler im System?
Der immense Bevӧlkerungszuwachs ist das Kernproblem
Eigentlich nicht. Das mexikanische Schulsystem an sich sieht neun Jahre Schulpflicht vor, bestehend aus sechs Jahren primaria und drei Jahren secundaria. Es folgen auf freiwilliger Basis drei weitere Jahre preparatoria und idealerweise geht es danach weiter mit dem Studium, welches durchschnittlich vier Jahre dauert. Problematischer sind die gesellschaftlichen Vorgänge, die das System unterlaufen. Die Bevölkerung Mexikos ist ausgesprochen jung, das Durchschnittsalter liegt bei 27 Jahren. Nach einiger Zeit wurden auf die Schnelle massenhaft Lehrer ausgebildet und Schulen gebaut, selbstverständlich auf Kosten der Qualität. Insbesondere innerhalb der letzten drei Jahrzehnte hat sich die Bevölkerung Mexikos noch einmal um die Hälfte erhöht. Damit ist ein schlecht organisierter Staat wie Mexiko, dessen Wirtschaft nicht einmal ansatzweise proportional mit der Bevölkerungszunahme mitgewachsen ist, heillos überfordert.
Die Mehrheit der Jugendlichen beendet Schullaufbahn trotz Schulpflicht vorzeitig
Laut Regierungsstatistiken brechen jedes Jahr mindestens 300.000 der Unter-14-Jährigen die Schule ab. Während in Deutschland 92 Prozent aller Schüler die vorgeschriebene Schulzeit ableisten, schafft das in Mexiko nicht mal jeder Zweite. Das liegt nicht nur an den Verhältnissen in den Schulen, sondern auch an der Mentalität der Eltern: In den unteren Einkommensschichten werden mehr als sechs Jahre Schulbesuch als Luxus aufgefasst, immerhin kostet der Schulbesuch trotz aller Beteuerungen der Regierung Geld und die Kinder können sich in dieser Zeit ja um ihre Geschwister sorgen oder selber Arbeit nachgehen, damit abends zu Hause Essen auf dem Tisch stehen kann.
Mehr als zwei Drittel der Lehrer besitzen keine Lehrtauglichkeit
Aber nicht nur die geringe Anzahl an Lehrkräften im Vergleich zur Anzahl der Schüler (1:28), sondern auch deren oftmals mangelnde Lehrtauglichkeit erschwert den mexikanischen Jugendlichen den Zugang zu adäquater Bildung. Durch die neue Regierung von Enrique Peña Nieto wurde eine erste Bestandsaufnahme der vorhandenen Lehrtauglichkeit vorgenommen. Ich habe mir diesen Test mit einigen Studenten angesehen, er wurde als a prueba de tontos (idiotensicher) bezeichnet. Das Ergebnis war für mich erschreckend, die mexikanischen Studenten wundert das kein Stück: Beim ersten Test sind 70 Prozent der Lehrkräfte durchgefallen. Ich will damit nicht sagen, dass 70 Prozent der Lehrer Mexikos Idioten sind, aber es fehlt ihnen an fachlichem Wissen in den Fächern, die sie unterrichten, sowie an logischen und pädagogischen Fähigkeiten.
Eine Gewerkschaft, die Bildung behindert und einige Wenige bereichert
Des Weiteren ist die große Macht der nationalen Gewerkschaft für Lehrerinnen und Lehrer (SNTE) ein nicht zu unterschätzendes Problem, da sie nicht für die Verbesserung der Bildungszustände im Land zu arbeiten scheint. Ganz im Gegenteil, die Gewerkschaft ist eine Organisation, in der sich jeder, der dazu in der Lage ist, bereichert. Von einem solch ineffizienten System aus Vetternwirtschaft und Korruption habe ich so noch nie gehört. Laut einer Studie von Mexicanos Primero, einer Bürgerinitiative, die sich für eine Qualitätsverbesserung der mexikanischen Bildung einsetzt, haben im Jahr 2012 Mitarbeiter der Gewerkschaft, die zu keinem Zeitpunkt in den aktiven Unterricht involviert waren, den Bildungsetat um 130 Millionen Dollar erleichtert.
Dieses System konnte entstehen, weil die Gewerkschaft seit einer Bildungsreform im Jahre 1992 einen Großteil der Bildungsausgaben erhält und in den öffentlichen Schulen die Kontrolle über die Vergabe von Lehrstellen zugewiesen bekommen hat. Dies öffnete ihr Tür und Tor für die in Mexiko ohnehin omnipräsente Korruption. So berichtet eine Lehrerin, die anonym bleiben möchte, in einer Tageszeitung, eine Lehrerstelle auf Lebenszeit für umgerechnet 22.000 Dollar gekauft zu haben. So etwas geschieht häufig in Mexiko. Qualifikationen spielten keine Rolle, wenn die Bewerber bereit waren, genug Geld für den Beruf zu bezahlen. Das schließt eine weitere dubiose Praxis ein: Vor der Pensionierung können Lehrer (und zahlreiche weitere Angestellte im öffentlichen Dienst) entscheiden, wem ihre Stelle übergeben werden soll. Über Jahre hinweg wurden Lehrerstellen in der Familie vererbt und nie hat sich jemand die Mühe gemacht, die Lehrtauglichkeit zu überprüfen.
Darth Vader im Gefängnis – Anzeichen eines Neuanfangs?
Elba Esther Gordillo, auch bekannt als “Darth Vader Mexikos”, war 23 Jahre Führerin der Gewerkschaft. Sie wurde unlängst verhaftet, da sie etwa 200 Millionen Dollar Steuergelder veruntreut haben soll. Sie half bei der Präsidentschaftswahl 2006 Felipe Calderón ins Amt, dieser bedankte sich bei ihr, indem er ihren Schwager Fernando Gonzáles zum Staatssekretär für Bildung ernannte. Die Verhaftung Gordillos folgte kurz nach der Wahl des neuen mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto, der jetzt auch eine Reform des Bildungssystems in die Wege geleitet hat, die zahlreiche Missstände beheben soll. Obwohl der genaue Inhalt noch nicht annähernd feststeht, sind doch einige Eckpunkte auszumachen: So sollen Lehrerstellen zukünftig nicht mehr vererbt werden dürfen, Lehrer müssen sich für ihren Job zukünftig regelmäßig qualifizieren, und etwaige Gehaltserhöhungen sollen zukünftig an Leistung gekoppelt sein. Gegen eine Qualifizierung regt sich von Seiten der Lehrerschaft erbitterter Widerstand, der meiner Meinung nach völlig unverständlich ist: Sie wenden sich gegen den “totalen Autoritarismus”, die “Arbeitsausbeutung” und warnen vor einer Privatisierung des Bildungssystems. Mit solch einer Polemik wird versucht, die ungebildeten und uninformierten Eltern hinter sich zu bringen, um zu verhindern, dass die Reformen ihre Privilegien begrenzen.
Die Freiheiten der Lehrer nehmen den Schülern Bildungschancen
Viele mexikanische Studenten berichten, dass während ihrer Schulzeit Lehrer über Wochen hinweg nicht zum Unterricht erschienen sind, oder, dass Schüler aus den älteren Jahrgängen zum Teil jahrelang als Vertretungslehrer eingesetzt wurden, wenn ein Lehrer einen der lukrativen Jobs in der Gewerkschaft angenommen hat. Wenn die Befähigung beim Großteil der Besetzungen von Lehrerposten keine Rolle spielt, hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Leistungen der Schüler. Ihnen fehlt nicht nur ein Vermittler von Wissen, sondern auch ein Mensch, der potentiell eine Vorbildfunktion einnehmen kann und den Wert von Bildung hervorhebt.
Eine nachhaltige Verbesserung ist unwahrscheinlich
Die Probleme der mexikanischen Politik sind sehr vielfältig. Am schlimmsten finde ich, dass es hier nie eine funktionierende Opposition gegeben hat und wohl auch nie geben wird… Insgesamt werden Reformen nur auf die jeweils aktuelle Legislaturperiode ausgerichtet, was für nachhaltige Verbesserungen im Bildungssystem natürlich völlig ungeeignet ist. Des Weiteren ist die Bildung ein eher heikles Thema für die Politiker, es ist ja schließlich einfacher, den Gewerkschaften die Schuld an der Bildungsmisere zu geben und untätig zu bleiben. Zynischerweise muss man auch anmerken, dass eine weitgehend ungebildete und unkritische Bevölkerung diese faule und ineffiziente Politik begünstigt. Denn: Wissen ist Macht.
Aufgrund des schlechten Bildungsstandes der eigene Bevӧlkerung erlangte Mexiko in den letzten Jahren vor allem Bekanntheit als Standort für billige und unqualifizierte Beschäftigung. Selbstverständlich erhalten auch die Drogenkartelle mehr Zulauf, wenn die Jugendlichen realisieren, dass sie kaum Chancen haben, auf legalen Wege ihre Familien zu ernähren und auf lange Sicht zu einem gewissen Maß an Wohlstand zu kommen. Ob und wie sich die Umstände ändern, liegt zum größten Teil in den Händen der mexikanischen Zivilgesellschaft. Trotz einiger vielversprechender Bewegungen sieht es bis jetzt nicht so aus, als ob genug Druck entstehen könnte, um die großen Probleme des Landes wirksam anzugehen.
Dieser Beitrag ist Teil einer Kooperation mit der Stabsabteilung Medien im Erzbistum Köln. Jeden dritten Sonntag im Monat schreiben wir exklusiv einen Gastbeitrag für die Facebook-Seite Erzbistum Köln.
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