Der Nordpol übt eine eigene Faszination auf den Menschen aus: eine Kombination aus ewigem Eis, orkanartigen Winden, unentdeckten Orten und unglaublichen Naturszenen. Bereits vor über 100 Jahren wurde die Eroberung des nördlichsten Punkts der Erde zu einem Wettlauf zwischen mutigen bzw. lebensmüden Abenteurern. Bis heute ist er nicht beendet und gewinnt in der aktuellen Zeit eine ganz neue Brisanz – er wird zum Spielball der Geopolitik.
Noch immer ist umstritten, wer den Nordpol als erster Mensch betrat. Zur Debatte stehen die amerikanischen Forscher Robert Peary und Frederick Cook, die zunächst zusammen die Arktis erforschten, um dann erbitterte Konkurrenten zu werden. Der Kampf um die Eroberung ging als „Nordpolverschwörung“ in die Geschichte ein. Fest steht, dass 1926 eine Forschergruppe um den Norweger Roald Amundsen den Nordpol überflog und 1937 eine sowjetische Gruppe unter der Führung Iwan Papanins sogar dort landete.
Die Motivation der Eroberer dürfte damals vor allem auf Neugier, Geltungsdrang und Abenteuerlust beruht haben. Dies könnte bei den heutigen Abenteurern ebenfalls zutreffen, doch viele Forscher arbeiten für die geopolitischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen der großen Weltmächte. Neben den USA, Kanada, Island, Dänemark (Grönland) und weiteren EU-Staaten liegt der Fokus vor allem auf der wichtigsten Macht nördlich des Polarkreises: der Russischen Föderation. Um welche Interessen geht es Russland und droht der Welt damit ein Showdown um die Vorherrschaft und die Ressourcen in der Arktis?
Der Mond ein Ami – die Arktis ein Russe?
Ob jemand tatsächlich den nördlichsten Punkt der Erde erreicht hat, kann nur temporär festgestellt werden. Im Gegensatz zur Antarktis schwimmt die Eisfläche der Arktis auf dem Wasser und ist somit ständig in Bewegung. Um ein deutliches Zeichen zu setzen, wem denn die Arktis gehöre, tauchte im Sommer 2007 das russische Propeller-U-Boot „Mir“ auf den 4000 Meter tiefen Grund. Im Gepäck hatte es eine kleine, weiß-rot-blaue Trikolore, die in den Meeresboden, also in den unverrückbaren Nordpol versenkt wurde. Die Botschaft war damit klar: „Die Arktis ist russisch“, sagte der Expeditionsleiter Artur Tschilingarow. Symbolismus ist eine Waffe, um strategische Interessen zu verdeutlichen. Das Bild ging um die Welt und glich der amerikanischen Fahne auf dem Mond, nur eben auf russische Art.
Welche Interessen verfolgt Russland?
Der Rückgang der Eisflächen im Wasser und das Auftauen des Permafrostbodens ermöglichen immer neue gigantische, wirtschaftliche Potenziale. In der Arktis erhoffen sich die Anrainerstaaten wirtschaftlichen Profit in sechs verschiedenen Sektoren. Dazu gehören Land- und Viehwirtschaft, Fischerei, Tourismus, Schiffsverkehr, Bodenressourcen und Energie. Während in den europäischen Staaten der Fokus auf dem Fischfang und dem Tourismus liegen, gilt Russlands Interesse vor allem drei Sektoren: Schiffsverkehr, Bodenschätze und Energie.
Bereits heute ist Russland ein gigantischer Exporteur von Bodenschätzen und fossilen Brennstoffen. Allein das in der russischen Arktis gewonnene Erdgas entspricht über 80% (2016) der insgesamt in Russland geförderten Menge. Auch die zuletzt stark kritisierten Ostsee-Pipelines „North Stream“ und „North Stream 2“ untermauern, wie wichtig die riesigen Erdöl- und Erdgasreserven in Russland für Europa sind. Dasselbe gilt für den Reichtum an Bodenschätzen, wie Diamanten, Cobalt, Nickel, Gold und Kupfer, die nördlich des Polarkreises abgebaut werden.
Das große Problem Russlands ist die große Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffpreisen, deren Volatilität regelmäßig zu Devisenengpässen führt. Daher investiert das Land seit längerer Zeit im großen Stil in Start-Ups, Technoparks und Unternehmen aus dem Digitalsektor. Zur weiteren Diversifizierung könnte ein neuer Handelsweg beitragen.
Die Gewinner des Klimawandels
Während in vielen Ländern der Erde bereits die Folgen der Erderwärmung durch längere Hitzeperioden, Wetterextreme und Temperaturrekorde erkennbar werden, gibt es nur sehr wenige Länder, die von dieser Entwicklung profitieren können, dazu gehört vor allem Russland. Zwar geht man davon aus, dass auch Russland insbesondere durch die Desertifikation der asiatischen Wüsten Probleme bekommen wird, aber im Gegenzug wird ein großer Teil im Norden Sibiriens bewohnbar bzw. schiffbar sein. Konkret geht es hierbei um die sogenannte Nordostpassage.
Es brauchte gleich mehrere Versuche, um den Seeweg von der Küste Norwegens bis zur Meerenge zwischen Russland und Alaska (Beringmeer) erfolgreich zu meistern. Den Anfang machte der Niederländer Willem Barents im 16. Jahrhundert, der immerhin bis zur Insel Nowaja Semlja gelang. Ein Problem, das weder Barents noch der schwedische Erstbezwinger der Nordpassage, Erik Nordenskiöld im Jahr 1879, überwinden konnten, war die Kürze der eisfreien Zeit im arktischen Sommer, weshalb beide Seefahrer im Eis überwintern mussten. Der Eisbrecher „Alexander Sibirjakow“ war 1932 das erste Schiff, welches die Nordostpassage ohne Überwinterung passierte. Heute ist der Seeweg drei Monaten im Jahr ohne Hilfe von Eisbrechern befahrbar – Tendenz steigend.
Die Nordostpassage verkürzt vor allem die Route zwischen der Nordsee und den chinesischen Meeren – um circa 13 Tage. Wie wichtig dies ist, zeigt ein Blick auf die Lloydslist, die jedes Jahr die größten Containerumschlagsorte ermittelt. In den Top 20 gibt es mit Port Klang (Malaysia), Dubai (Vereinigte Arabische Emirate), Long Beach und Los Angeles (beide USA) vier Ausnahmen, denn alle 16 von 20 der größten Häfen liegen an der Nordsee oder im Ost- bzw. Südchinesischen Meer.
Die derzeitige Hauptroute zwischen diesen Häfen liegt allerdings in sensiblen Sicherheitszonen. Die Straße von Malakka, der Golf von Aden und das Rote Meer sind immer wieder von Piraterie heimgesucht worden. Die gefährliche Mischung aus großen, vollgeladenen, unterbesetzten Containerschiffen und einer armen Landbevölkerung an den Ufern in Indonesien und Malaysia sorgen für erhebliche Ausgaben für Sicherheit – zumal die Straße an der engsten Stelle nur circa drei Kilometer lang ist. Weiterhin befinden sich viele Anrainerstaaten der Route in einer politisch unsicheren Lage, darunter der Jemen, Somalia und Ägypten. Auf der nördlichen Strecke wiederum zählen die Gebiete um die Passage zu den am geringsten bevölkerten Gebieten der Welt. Immerhin sind an der russischen Nordküste mehrere Armeeposten, Poststationen und kleine Häfen zu finden – der Ausbau moderner Häfen ist längst gestartet.
Seit dem Ende der Sowjetunion suchte Russland nach seiner Stellung im Konzert der Großmächte. Zwischenzeitlich wurde Russland von Barack Obama sogar zur „Regionalmacht“ heruntergestuft. Das ist mit Blick auf die derzeitige Situation nicht mehr der Fall – Russland spielt wieder im Konzert der Weltmächte mit. Die im Zuge des Klimawandels entstehenden neuen Potenziale im Abbau von Bodenschätzen und in der Schifffahrt fördern diese Entwicklung zusätzlich. Russland wird mitreden wollen, notfalls militärisch.
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