Vom Aussteiger und Ziegenhirten zum “Bürgermeister” des größten Flüchtlingslagers der Welt. In seiner Autobiografie nimmt der ehemalige UNHCR-Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt den Leser mit zu den Krisenherden der Welt. Ganz nebenbei erklärt er seinen innovativen Ansatz zur Flüchtlings- und Entwicklungshilfe. Der Titel seines 2015 erschienenden Buches “Weil es um den Menschen geht” bringt die Motivation auf den Punkt, die ihn bei seiner Arbeit antreibt.
An den Krisenherden der Welt
Somalia, Ruanda, Kongo, Sri Lanka, Sarajevo, Pakistan – das sind nur einige von Kilian Kleinschmidts Stationen als Krisenhelfer für das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Das hatte der nun 53-Jährige selbst nicht geplant, als er nach seinem Abitur in Berlin nicht an die Uni ging, sondern als Aussteiger in die Pyrenäen. Einige Jahre lebte er dort als Ziegenhirte und Dachdecker, bevor er auf einer Motorradreise durch die Sahara zur Entwicklungshilfe kommt. Sein erstes eigenes Projekt: Ein Ausbildungszentrum im Busch in Uganda bauen. Er bleibt vorerst in Afrika, bringt Lebensmittel in die Bürgerkriegsgebiete im Sudan, baut Flüchtlingslager in Kenia und muss mit Warlords etwa in Somalia verhandeln. Eine Kalashnikov am Kopf, Bombenanschläge neben ihm und Verfluchungen der afrikanischen Stammesfürsten halten ihn dabei nicht auf. Während des Bürgerkrieges der Hutu und Tutsi in Ruanda organisiert er vor Ort Nothilfe und Rückführungen für Vertriebene, teils sogar per Flugzeug aus dem kongolesischen Regenwald, wo sich 300.000 Menschen versteckt haben. In Sri Lanka fährt er Hilfskonvois auf dem Gebiet der Tamil-Rebellen, während des Bosnienkrieges hilft er in Sarajevo, in Pakistan organisiert er Nothilfe für Menschen, die vor Terrorismus und Naturkatastrophen fliehen. Wie eine wilde Reise durch die Brennpunkte der Welt liest sich auch das Buch. Es macht die Krisen erfahrbar und verständlich und fordert den Leser durch die verschiedenen Situationen, vielen Namen und Fakten. Doch der Trumpf des Buches ist: Es bleibt immer spannend, es sind persönliche Eindrücke, Dialoge und Details, die die Fakten lebendig werden lassen. Natürlich muss man sich bewusst sein, dass es ausschließlich die subjektiven Erfahrungen eines Mannes sind, der wahrscheinlich zurecht stolz auf seine geleistete Arbeit vor Ort ist.
Selbstbestimmung und die “Champs Élysées”
Seine Erfahrungen konnte Kleinschmidt ab 2013 als Leiter des jordanischen Flüchtlingscamps Zaatari einsetzen. Als er ankommt, werden Flüchtlingszelte demoliert, Gemeinschaftstoiletten abgebaut, Stromkabel zerschnitten. Es gibt Streit zwischen den Flüchtlingsgruppen und kontinuierliche Demonstrationen gegen die Verhältnisse, bei denen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sogar mit Steinen angegriffen werden. “Was wollt ihr?”, fragt er die Menschen im Camp, auch die Abus, die Führer der verschiedenen Clans, die teils im Lager fast mafiöse Strukturen aufbauen. Und er versteht: Die Menschen sehnen sich nach Individualität, nach privaten Rückzugsorten, nach Selbstbestimmung. Sie haben nicht alle die selben Bedürfnisse, wollen keine Gleichmacherei. Er beginnt, die Menschen selbst ihre Zelte und Container gestalten zu lassen, auch wenn sie sie aus der Reihe herausnehmen wollen. Familien können eigene Toiletten und Küchen mit Trinkwasseranschluss einrichten, statt die Großanlagen und Verteilungsstellen aufzusuchen. Geschäfte werden von den Flüchtlingen aufgebaut auf der scherzhaft sogenannten “Champs Élysées”, der Hauptverkehrsstraße der 110.000 Menschen großen Flüchtlingssiedlung. Statt Rationen mit genau den gleichen Inhalten erhalten die Menschen Kreditkarten, mit ihren biometrische Daten versehen, mit der sie eigene Dinge einkaufen können. Auch eine von den Flüchtlingen selbst organisierte Elektrizitätsgesellschaft wird gegründet. Die Demonstrationen und der Vandalismus gehen drastisch zurück. Besuchern des Lagers, darunter Frank-Walter Steinmeier genauso wie Angelina Jolie, erklärt Kleinschmidt das Konzept mit einer Toy Show: kleinen Spielzeugfiguren auf einer Karte des Lagers. So “lebten Flüchtlinge ihre ganz eigene Persönlichkeit aus – das machte letztlich auch ihre Stärke aus” schreibt er. Man könne die Menschen nicht immer nur kurzfristig als Zahlen und logistisches Problem sehen.
“Flüchtlings-Startups anstatt Suppenküchen”
“In uns allen steckt ein Flüchtling” heißt das letzte Kapitel, indem er seine Ideen zur Flüchtlingshilfe der Zukunft erklärt. Durch Fluchtbewegungen und Migration sei die Weltbevölkerung überhaupt erst entstanden. Auch heute sei es wichtig, die Potenziale der Flüchtlinge zu nutzen, die im Moment ihr Geld hauptsächlich an die Schlepper bezahlen. “Diejenigen, die in Not sind, sollten nicht mehr als passive Opfer betrachtet werden, sondern als die, die etwas wollen und auch können.” Jeder erfolgreiche Flüchtling werde die Kosten seiner Integration mehrfach zurückzahlen und gleichzeitig mindestens zehn weitere Personen in seiner Heimat unterstützen – eine sinnvollere Entwicklungshilfe als die vieler Organisationen bisher, so Kleinschmidt. Flüchtlinge würden keine Almosen wollen, sondern Chancen. Und dazu gebe es gerade in unserem Jahrhundert einige Möglichkeiten. Digitaler Austausch kann in beide Richtungen funktionieren: “Es existiert ein Problem – und irgendwo auf dieser Welt gibt es bestimmt eine Person, die bei der Lösung helfen kann.” Jeder Mensch könne etwas anbieten: seine Arbeitskraft, sein Wissen, seine Lebenserfahrung oder sein Netzwerk, schreibt der Krisenexperte und nennt einige innovative, dezentrale Ansätze. Oft sei die internationale Hilfe zu einem Geschäft mit dem Leiden geworden, so Kleinschmidt – Almosen seien zur schnellen Nothilfe sinnvoll, doch ein nachhaltiger Einsatz müsse die Kräfte und Würde der lokalen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen. Auch die Kategorisierung von Flüchtlingen findet er nicht sinnvoll: “Es sind Menschen, die aus verschiedenen Gründen stark gemacht werden müssen – und es ist eigentlich erst einmal egal, wo und warum.” Mittlerweile hat Kilian Kleinschmidt seine eigene “Innovation and Planning Agency” gegründet, um für genau diese weltweite Vernetzung in der Entwicklungshilfe zu arbeiten. Auf einer Konferenz im Dezember hieß es, dass er mittlerweile sogar die deutsche Bundesregierung in der Flüchtlingskrise berät.
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