„Wie werde ich eigentlich unglücklich?“ Das kann man sich zwar fragen, doch eigentlich nicht wollen. Diese Frage interessiert jedoch seit Jahrzehnten die psychologische Wissenschaft. Ein junger Forschungsansatz innerhalb der Disziplin dreht diese Frage um und ergründet seither, wie Menschen aufblühen können. Ein Portrait eines aufstrebenden aber nicht unumstrittenen Zweigs der Psychologie, der sich der Kernfrage des menschlichen Daseins widmet und dabei auch für Gesunde interessant ist.
Depressionen, Angst, Schizophrenie: An diese und weitere Krankheitsbilder denken wohl viele zuerst, wenn man sie fragt, womit sich eigentlich die Psychologie beschäftigt. Und tatsächlich hat sie sich bisher vor allem auf Störungen und Krankheiten fokussiert. Und das ist auch gut so gewesen, denn dadurch konnten psychische Störungen besser erforscht und wirksame Behandlungsmethoden entwickelt werden.
Aber: Studien und Statistiken zufolge (in Deutschland beispielsweise jene der Krankenkassen und der Bundespsychotherapeutenkammer) nehmen psychische Erkrankungen in den westlichen Ländern immer mehr zu. Außerdem: Werden psychische Krankheitssymptome gemindert, garantiert dies noch lange nicht Zufriedenheit, Wohlbefinden und Glück. Dabei definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit in der Präambel ihrer Verfassung doch bereits seit den Vierzigerjahren als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ und damit nicht nur als „das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
Ein neuer Forschungszweig ringt um Anerkennung
Es war insbesondere der amerikanische Psychologieprofessor Martin Seligman, der einen neuen Ansatz der wissenschaftlichen Psychologie forcierte: Sie solle sich mehr mit positiven Emotionen und Eigenschaften der menschlichen Psyche befassen, wie er 1998 in seiner Antrittsrede nach seiner Wahl zum Präsidenten der American Psychological Association (APA) forderte. Flourishing – das Aufblühen des Menschen zu fördern, ist seither erklärtes Ziel der Positiven Psychologie.
Doch sie ist in der Scientific Community noch nicht ganz unumstritten: Obwohl Seligman und andere Vertreter der Disziplin stets betonen, dass mit ihrem Ansatz die bisherige Psychologie nicht als negativ herabgewürdigt werde und auch die Befassung mit Störungen und Krankheitsbildern weiterhin wichtig bleibe, wird der neue Forschungszweig häufig als bloße „Happyologie” und „Tyrannei des Positiven” (Barbara Held) kritisiert. Dagegen wehren sich die Vertreter der Positiven Psychologie, da das Negative nicht ausgeblendet werde, nur weil sie das Positive nicht mehr länger vernachlässigten und in den Fokus stellen wollen. Paul Wong etwa entwickelt als Antwort auf diese Kritik eine „Positive Psychologie 2.0”. Diese fragt auch danach, welchen Nutzen negative Emotionen für das Wohlbefinden haben können und ist daher ganzheitlicher ausgerichtet.
Auch wird Positive Psychologie des Öfteren mit dem sogenannten „positiven Denken” in einen Topf geworfen: Vor allem selbsternannte Ratgeber, Coaches und Gurus propagieren meist eine esoterische Art des positiven Denkens, mithilfe derer alles im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeihung möglich sei, wenn man eben nur positiv genug denke. Positive Psychologie arbeitet hingegen empirisch und mit wissenschaftlichen Methoden, um ihre Theorien nachvollziehbar aufzustellen und kritisch zu überprüfen.
Was Positive Psychologie bietet
Es geht der Positiven Psychologie also um die Vermehrung menschlichen Wohlbefindens und Glücks. Letzteres meint jedoch nicht das bloße Zufallsglück, das halt passiert oder eben nicht, man es aber jedenfalls nicht wirklich beeinflussen könne. Es geht sowohl um das kurzfristige Genussglück, das je nach Gusto etwa ein leckeres Eis oder ein guter Film verspricht, als auch um das langfristige Werteglück, wenn wir etwa Liebe, Treue oder Wahrhaftigkeit im Leben verwirklichen und damit „werteorientiert“ leben wollen. „Aufblühen“ geschieht nach Seligmans etabliertem PERMA-Modell in den Dimensionen „Positive Emotionen“, „Engagement“, „Relationships“, „Meaning“ und „Accomplishment“. Er und seine Kollegen zielen mit der Frage nach gelingendem Leben also nicht nur auf die Ebene der Gefühle, sondern ebenso auf die Aktivitäten, die Beziehungen, die Sinnsuche und das Erreichen von Zielen der Menschen ab. Daher ist der Ansatz letztlich auch nicht vollkommen neu, sondern wurde unter anderem von der antiken Philosophie des Aristoteles sowie der christlichen Weisheitstradition und Ethik inspiriert.
Bei alledem lautet die Kernbotschaft dieser noch relativ jungen Forschung: Wir haben unser Lebensglück ein gutes Stück weit selbst in der Hand und können es gezielt steigern. Doch können wir damit negative Emotionen wie Wut, Frust, Schuld oder Trauer nicht einfach ausmerzen oder überspringen. Es ist eben nicht immer alles gut und alles happy im Leben. Der Lernprozess innerhalb der Positiven Psychologie in Auseinandersetzung mit ihren Kritikern führte dazu, dass nun auch erforscht wird, wie negative Gefühle und Erlebnisse uns zu positiven Veränderungen im Leben motivieren können. Man weiß heute: Es sind auch und manchmal sogar gerade die negativen Erfahrungen im Leben, auch Traumata, an denen Menschen wachsen können.
Leitend bleibt dabei die Frage, was Menschen hilft, ihr positives Potenzial bestmöglich zu nutzen; wie sie es schaffen können, dankbarer, freudvoller, aktiver und sinnerfüllter leben zu können. Wer auf wissenschaftlich-empirische Erkenntnisse mehr vertraut als auf markige Botschaften selbsternannter „Glücks-Bringer“, kann in der Beschäftigung mit der Positiven Psychologie die eine oder andere Anregung finden. Denn ihr Alleinstellungsmerkmal ist ihr Angebot nicht nur von wissenschaftlichen Theorien über das Glück, sondern auch von experimentell geprüften Praxisübungen. Diese können auch psychisch Gesunde dabei unterstützen, das je eigene Glück bewusst zu suchen und im besten Fall eigenes Glücksempfinden gemäß der je eigenen Werte in den unterschiedlichen Dimensionen des eigenen Lebens zu mehren.
Welche konkreten Übungen es gibt und wie diese hinsichtlich ihrer Wirksamkeit eingeschätzt werden, darum geht es in einem zweiten Beitrag.
Quellen und weiterführende Literatur:
Blickhan, Daniela: Positive Psychologie. Ein Handbuch für die Praxis, Jungfermann Verlag, Paderborn 2015.
Dies.: Formel für ein gelingendes Leben. Warum die Positive Psychologie mehr ist als eine Happyologie, in: Praxis Kommunikation, Ausgabe 5/2015.
Bundespsychotherapeutenkammer (BptK): BPtK-Studie zur Arbeitsunfähigkeit Psychische Erkrankungen und Burnout. Berlin 2012.
Held, Barbara: The tyranny of the positive attitude in America: Observation and speculation, in: Journal of Clinical Psychology, 58(9), 965-991.
Seligman, Martin: Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens, Kösel, München 22014.
Wong, P. T. P. (2011). Positive psychology 2.0: Towards a balanced interactive model of the good life, in: Canadian Psychology, 52(2), 69-81.
Rainer Ostendorf
“Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen.” Sigmund Freud – Der Artikel zum Thema Glück gefällt mir. Schöne Grüsse aus Osnabrück. Ich wünsche euch weiterhin viel Glück mit eurer Webseite, die mir wirklich gut gefällt.
Lars Schäfers
Lieber Herr Ostendorf, vielen Dank für Ihren Kommentar. Das Zitat von Freud drückt eine Einstellung aus, die sicherlich viele von uns auch kennen; gut daher, dass in der Positiven Psychologie der Blick mehr darauf gerichtet wird, wie Freude gewonnen wird, als darauf bloß Schmerz und negative Gefühle zu vermeiden. Vielen Dank für Ihr Lob und viele Grüße!