Vogelgezwitscher, Kuhglockengeräusche und Insektensummen. Wer möchte nicht so aufwachen. So idyllisch leben. Doch dieses Leben ist verbunden mit harter Arbeit und Disziplin. Eine Familie – eine Alphütte – ein Leben…
Sommer 1966
Ein junger Mann hackt Holz auf seiner Alpe „Jägerhütte“. Der Grund? Er lebt hier gemeinsam mit ca. 170 Rindern und 5 Milchkühen, die er den Sommer über versorgt. Er wohnt hier ohne fließendes Wasser, ohne Dusche, ohne Telefon, ohne Strom und nur mit Plumpsklo, fern ab von der Außenwelt auf ungefähr 50 qm² in einer kleinen Hütte. Dennoch glücklich, in der freien Natur, ruhig, abgeschieden, ungezwungen. Genau deswegen hat er hier schon als Hirtenjunge damals angefangen und betreibt die Alpe nun das erste Jahr alleine.
Sommer 1975
Der junge Mann ist inzwischen Vater und sitzt gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Söhnen am Frühstück. Er hat bereits heute Morgen schon die Milchkühe gemolken, im Anschluss macht er sich auf zu seiner Runde, um zu überprüfen, ob alle Rinder noch vollständig und unversehrt sind. Währenddessen wird seine Gemahlin anfangen, die Milch zu Butter und Quark zu verarbeiten und die ersten Brotzeiten vorbereiten. Es werden auch am heutigen Tag Bergsteiger erwartet, die sich über eine Bewirtung freuen – Alltag oberhalb des touristischen Hochgebietes um Schloss Neuschwanstein. Abgeschieden vom Ort lebt die Familie hier nun von Mitte Juni bis September, kümmert sich um das Vieh und bewirtschaftet die Alpe.
September 1980, Ende der Hirtensaison.
Gemeinsam wird das Vieh wieder auf den Almabtrieb vorbereitet. In diesem Jahr haben alle Tiere den Sommer überlebt, deshalb werden die Köpfe mit Blumenkränzen geschmückt. Diese hat seine Frau mit den Kindern gemeinsam selbst gemacht. Bergblumen wurden gesammelt und anschließend zu aufwendigen Kränzen gebunden. Die sechs prächtigsten Rinder bekommen diese als Kopfschmuck und werden einzeln von ihren stolzen Besitzern am Strick ins Tal hinabgeführt.
Die restlichen Rinder begehen ihren Abstieg in der Herde. Hier ist nochmal letzte Konzentration und Kraft bei allen Beteiligten gefragt. Der Hirte läuft gemeinsam mit seinem älteren Sohn vorne weg. Die vordersten Tiere sind gleichzeitig die Stärksten und somit Anführer der Herde. Sie müssen dauerhaft unter Kontrolle gehalten werden, denn alle dahinter laufenden Tiere laufen ihnen eng hinterher, ohne etwas zu sehen. Bei einer Kurve mit Abhang äußerst gefährlich. Deshalb müssen die Rinder an steilen Passagen gebremst, in Flachpassagen aber wieder, um die Tiere in einer Schlange zu halten, angetrieben werden. Ein enormer Kraftakt für alle. In Laufschritt geht es den gesamten Berg bis ins Tal hinab. Sie versuchen, die Herde durch lautes Zurufen und Querhalten der Hirtenstöcke vorne und hinten zu kontrollieren. Dies mit äußerster Vorsicht, denn Stolpern muss unbedingt verhindert werden, würde einen sonst die ganze Herde sofort niedertrampeln.
Auch wenn ein wunderbarer Hirtensommer mit schönen Erlebnissen zu Ende geht, ist man doch sehr glücklich, das Vieh gesund und vollständig mit den Bauern zurück nach unten gebracht zu haben.
Mitte Juni 1984, die neue Saison startet.
Die weiblichen Jungrinder der umliegenden Bauern werden, nachdem sie bereits circa 1,5 Monate gemeinsam auf der Voralm verbracht haben, in das Gebiet um die Hochalm getrieben. Ab nun werden sie gemeinsam mit der Hirtenfamilie hier den Sommer verbringen. Die Pflicht des Hirten ist es, jedes Tier einmal am Tag zu sehen, damit eventuelle Verletzungen und Krankheiten sofort auffallen würden. Diese Überprüfungsrunde dauert sechs bis acht oder auch mehr Stunden, dabei legt er viele Höhen- und Kilometer zurück. Zusätzlich fallen Aufgaben wie Melken, Reparatur von Zäunen, Brennholz machen, Lebensmittel aus dem Tal besorgen, Essen vorbereiten, Gäste bedienen, kochen, spülen und vieles mehr an, bei der die ganze Familie mit anpacken muss.
Zur Schule gehen die beiden Jungs ins unterhalb von Neuschwanstein gelegene Gymnasium. Statt ins Dorf geht es nach der Schule wieder hoch auf die Alpe. Spielzeug gibt es nur wenig, doch trotzdem muss man nicht besonders kreativ sein, um sich zu beschäftigen, denn die umliegende Natur ist ein Paradies zum Spielen. Tiere oder Pflanzen, die man im Tal nie zu Gesicht bekommt, kann man hier oben entdecken. Während andere Kinder Lego spielen,
Fernsehen gucken, an den Badesee gehen oder im Fußball- oder Trachtenverein sind, beobachtet man hier in seiner freien Zeit Tiere, schnitzt Dinge aus Holz oder spielt fangen und verstecken im Wald. Viel Zeit verbringen die Beiden aber vor allem am nahe gelegenen Bach, denn sie sind wahre Experten im Staudammbauen geworden.
Und eine Änderung gibt es in diesem Jahr noch: Im November des letzten Jahres hat die Familie ein neues Mitglied bekommen. Das 6 Monate alte Mädchen verbringt nun auch gemeinsam mit den beiden 15 und 12-jährigen Brüdern und den Eltern seinen ersten Sommer auf der Alpe.
September 1987
Heute ist Almabtrieb. Bei einem Sommer ohne Verluste eines Tieres würden heute einige Rinder geschmückt den Weg ins Tal antreten. Leider haben sie aber in diesem Jahr eines verloren. Die eigentlich feierliche Stimmung zum Ende der Saison ist getrübt. Man macht sich Vorwürfe, hatte man doch die Verantwortung für das Tier und wächst über die Monate auch mit ihnen zusammen. Einige Rinder begleiten ihn ja schon bis zu drei Jahre im Sommer mit hinauf… doch auch das gehört zum Berufsrisiko. Die Tiere sind nicht angebunden, sie können sich im ganzen Berggebiet frei bewegen. Dies führt teilweise zu weiten Wegen bei der täglichen Überprüfungsrunde, ermöglicht dem Vieh aber auch eine freie, unbeschwerte Zeit. So kann es leider auch passieren, dass mal ein Rind abstürzt oder auch von einem Blitz getroffen wird.
Es scheint, als ob auch die Rinder gemerkt haben, dass eines von ihnen beim Abstieg fehlt, denn auch die Tiere schließen über den Sommer Freundschaften.
Nun steht der Winter bevor. Für ihn bedeutet das die Arbeit als Forstwirt, für die Tiere Zeit im Stall. In sechs Monaten werden sie sich wiedersehen. Voller Vorfreude und Aufregung auf einen neuen Sommer auf der Alpe.
Etwas ist allerdings noch anders: es wird der letzte Sommer mit der ganzen Familie gewesen sein. Sein ältester Sohn wird im Herbst eine Kochlehre 60 Kilometer entfernt beginnen. Den Sommer wird er nicht mehr mit in den Bergen verbringen.
1995 – Es wird sein letzter Sommer als Hirte gewesen sein.
30 Jahre lang hat er jeden Sommer hier oben verbracht, alleine und mit der Familie, der 2. Sohn wurde hier fast geboren, kam nur 5 Tage nach der Geburt schon hinauf und verbrachte den ersten Sommer seines Lebens auf der Alpe. Auch die kleinste Tochter verbrachte hier ihre ersten Jahre, hatte sogar einige Sommer ihr Haustier, ein Frettchen mit dabei. Der älteste Sohn entdeckte hier sein Gefallen am Kochen. Der Hirte selbst und seine Frau durften viele schöne Bekanntschaften machen und Erlebnisse sammeln. Nun ist dieses Lebenskapitel zu Ende.
2015
20 Jahre sind vergangen, seit seinem letzten Hirtensommer. Inzwischen ist einiges passiert. Sein ältester Sohn hat nach der Kochlehre eine Umschulung zum Schreiner gemacht. Das Arbeiten mit Holz hatte ihm früher schon gefallen. Seit 16 Jahren ist er mit einer eigenen Firma selbstständig, verheiratet und hat 2 Kinder. Der Opa liebt es, seine beiden Enkelinnen mit in die Natur zu nehmen, ihnen Geschichten von seiner Hirtenzeit zu erzählen und ihnen besondere Tiere und Pflanzen zu zeigen.
Der zweite Sohn hat nach einer Banklehre Zeit in Indien verbracht und dort verschiedene Kulturen kennengelernt. Inzwischen hat er es seinem Vater gleichgetan, ist Alphirte auf einer nahegelegenen Alpe und versorgt dort das Jungvieh. Stolz besucht sein Vater ihn regelmäßig.
Die jüngste Tochter entdeckte ihre Liebe zu Pferden, machte Praktika, eine Ausbildung und ist nun bayerische Landestrainerin für Dressurreiten.
Alle drei hat ihr Leben dort oben geprägt, eine Gemeinsamkeit, die für immer bleiben wird. Viel Zeit ist seitdem vergangen. Er selbst lebt, mit Hund und Katzen, zusammen mit seiner Frau im gemeinsamen Haus im Tal. Die Leidenschaft für die Natur ist geblieben, gerne geht er im Herbst früh morgens zum Pilze sammeln oder Bergsteigen und erinnert sich an alte Zeiten…
Nachtrag
Im letzten Sommer mussten wir uns von ihm für immer verabschieden.
Doch alle bleiben sie verbunden, durch das gemeinsame Leben mit und in der Natur an einem ganz bestimmten Ort.
Dieser Text ist der Versuch, die Gefühle und Gedanken rückblickend erahnend darzustellen und dadurch allen die Möglichkeit zu bieten, einen Einblick in dieses Leben als Hirte und das damit verbundene Familienleben zu gewinnen. Was vielleicht für viele wie ein banaler Nebenjob klingt, ist eine verantwortungsvolle, sehr prägende Rolle.
Mir gab es die Möglichkeit, in sein Leben einzutauchen, Erinnerungen hervorzurufen und mich von ihm zu verabschieden. Ich bin sehr stolz, seine Enkelin sein zu dürfen.
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